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Ein kluger Richter

Wort zum Tage | 14.08.2023

Diakon Gerrit Schulte, Osnabrück

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Der Mann liegt in einer Auffahrt. Mit dem Gesicht zur Erde. Er ist mittleren Alters, gut gekleidet. Gegenüber ist die Beratungsstelle für wohnungslose Menschen. Die Menschen gehen vorbei, sie haben es eilig, zur Arbeit zu kommen. Das Fahrrad des Verunglückten blockiert den Gehweg. Ansprechbar ist er nicht. Aber er atmet. Nur wenige Meter weiter ist eine Arztpraxis. Der weiß gekleidete Mediziner steht vor der Tür, unterhält sich. Ich rufe ihm zu, er winkt ab. Ich rufe erneut, er wendet sich ab… Mittlerweile ist ein weiterer Passant zur Hilfe geeilt. Der Mann am Straßenrand stirbt noch bevor die Rettungskräfte eintreffen.

Eine reale Geschichte. Sie erinnert mich trotz mancher Unterschiede an ein Gleichnis, das Jesus im Lukas Evangelium erzählt. Auch da ein Mann, der halbtot am Straßenrand liegt. Kein Unfall. Ein Überfall. Auf der Straße von Jerusalem nach Jericho. Räuber haben ihn dort zurückgelassen. Ein Priester und ein Kirchendiener sehen den Schwerverletzten, gehen vorbei; sie sind in Eile, vielleicht haben sie auch Angst. Ein Mann aus Samaria hilft. Über ihn heißt es: "Er sah ihn und hatte Mitleid." Den Zuhörern Jesu ist dieser Retter suspekt, ein Fremder aus dem verfeindeten Samaria, der ihre religiösen Ansichten nicht teilt.

Bei Jesus wird er zum Vorbild. All das nimmt seinen Anfang mit einem Streit um das Gesetz Gottes: Gottesliebe und Nächstenliebe. Darin sind sich alle einig. Aber wie macht man das? Ein Gesetzeslehrer fragt hartnäckig nach: "Und wer ist mein Nächster?" Naheliegend wäre ja, der Nächste komme aus der Nähe – aus Familie, religiöser oder ethnischer Gemeinschaft. Jesus erteilt dieser Einengung eine Absage. Das Gleichnis vom sprichwörtlich gewordenen barmherzigen Samariter hält für den Gesetzeslehrer noch eine weitere Pointe bereit.

Jesus antwortet ihm: Du musst nicht fragen, wer dein Nächster ist – ob nah oder fern. Frage lieber, wem du selbst zum Nächsten wirst, weil er oder sie deine Hilfe braucht. Das Geschehen auf der Straße von Jerusalem nach Jericho lässt sich auch verstehen als Parabel für den Weg der Menschheit durch die Geschichte. Der Überfallene am Straßenrand wird zum Gleichnis für den von Kriegen, Klimawandel und Hunger gequälten Menschen. Christen glauben, dass Gott diese Not sieht und uns in Jesus Christus selbst zum Nächsten und Retter geworden ist.

Die anfangs geschilderte Szene des verunglückten Mannes am Straßenrand einer norddeutschen Stadt hatte ein gerichtliches Nachspiel. Der Arzt wurde der unterlassenen Hilfeleistung angeklagt. Alle Einlassungen, die seine Gleichgültigkeit rechtfertigen sollten, wies der kluge Richter mit einem einzigen Satz ab: "Sie sind gefragt worden und sie sind nicht hingegangen!"

Über den Autor Gerrit Schulte

Dr. Franz Gerrit Schulte, geb. 01.03.1954, studierte Geschichte, Germanistik und Publizistik, promovierte 1987 an der philosophischen Fakultät der Westfälischen-Wilhelms-Universität in Münster bei Prof. Dr. Winfried B. Lerg mit einer historisch-publizistischen Arbeit unter dem Titel "Der Publizist Hellmut von Gerlach 1866-1935 – Welt und Werk eines Demokraten und Pazifisten", erschienen 1988 im K.G. Saur Verlag München als Bd. 19 der Reihe Kommunikation und Politik. Berufliche Stationen als Redakteur der Kirchenpresse in Hildesheim und Osnabrück. Weihe zum Ständigen Diakon 2003. Seit 2004 ist Schulte hauptberuflicher Diakon der Domgemeinde St. Petrus in Osnabrück. Von 2007 bis zum Eintritt in den Ruhestand 2019 war Schulte Vorsitzender des Caritasrates des Diözesancaritasverbandes Osnabrück. Verheiratet, Vater von drei erwachsenen Töchtern.