Ich gehe gerne auf historische Friedhöfe. Auf Friedhöfe, bei denen ich eigentlich gar niemanden persönlich kenne und wo gerade keine Beerdigung stattfindet. Da lernt man viel über das Leben. So wie die Menschen im Leben miteinander umgegangen sind, so dokumentiert es sich häufig auch – bewusst oder nicht – auf den Friedhöfen.
Eine Entdeckung auf einem Berliner Friedhof hat mich besonders beeindruckt. Kein Promigrab, keine besondere Grabgestaltung. Aber doch eine besondere Grabinschrift. Es ist das Grab einer alten Dame, die, so ließen die Jahreszahlen auf ihrer kleinen Grabplatte erkennen, wohl ein ganzes Jahrhundert gelebt hat. Alleine das ist ja schon beeindruckend. Was sie wohl alles erlebt hat in dieser Zeit? Aber noch mehr beeindruckt mich, was da noch steht. Die Frau hieß wohl Ruth mit Vornamen. Und mit einem beabsichtigten Buchstabendreher und ohne einen Nachnamen steht da auf ihrer Grabplatte schlicht ihr Vorname in doppelter gesprochener Wortbedeutung: "Hier Ruth."
Ich weiß nichts über diese Frau, aber ich glaube, sie hatte Humor. "Hier Ruth." Damit ist schon alles gesagt. Sie hat mir damit noch nach ihrem Tod ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Und ich habe direkt, als ich an ihrem Grab vorbeikomme, ein Bild von einer verschmitzten, alten, lebensfrohen und zufriedenen Frau im Kopf.
Und noch etwas steht da: "Hier Ruth. Von allen guten Geistern ... – umgeben". Ja, eben nicht von allen guten Geistern verlassen, sondern von allen guten Geistern umgeben. Wow, was für eine beeindruckende Frau muss das gewesen sein, denke ich. Wie wunderbar, wenn man das auf den Grabstein schreiben kann: Dass da jemand ruht, der sich auch nach dem Tod und im Tod noch von allen guten Geistern umgeben weiß.
Ein Mensch mit Humor und wohl auch mit Gottvertrauen. Jemand, der sich geborgen weiß, auch wenn nach menschlichem Ermessen das Leben zu Ende ist und nur jemand im Glauben vertrauen kann, dass das noch nicht das Ende von allem ist. Wie unbedeutend wirken da all die anderen Grabinschriften mit ihren bedeutungsschweren Titeln, die sich bemühen, das Lebenswerk des Verstorbenen für die Nachwelt hochzuhalten.
Manchmal genügen einfach ein paar wenige Worte, die kaum mehr sind als der Name, um nach einem erfüllten Leben von Hoffnung und Zuversicht zu erzählen: Hier Ruth. Von allen guten Geistern umgeben. Amen. Das gönn' ich ihr, der unbekannten Toten, die mir damit plötzlich doch ganz nahe geworden ist.