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Tau

Wort zum Tage, 15.07.2024

Ulrike Lynn, Chemnitz

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Im Sommer, wenn ich kurzärmlige Kleidung trage, ist es ganz besonders offensichtlich: das Tattoo an meinem Handgelenk. Oft werde ich gefragt, was es denn bedeute, dieses dunkelrot-ausgefüllte T, das ich mir mitten auf meine Pulsschlagader hab zeichnen lassen. Es ist ein Tau, das gemeinsame Symbol der franziskanischen Familie.

Der heilige Franziskus wird im 12. Jahrhundert in Assisi in eine reiche Tuchhändlerfamilie hineingeboren. Schon bald distanziert er sich radikal von seinem für ihn vorgesehen Lebensweg und zieht als Wanderprediger durch das Land. Seine große Ernsthaftigkeit und seine Liebe zu Gott, den Menschen und zu jedem Geschöpf, ja zur gesamten Natur, beeindruckt seine Freunde. Gemeinsam mit ihnen gründet er 1209 den Orden der Minderbrüder, der späteren Franziskaner.

Das Tau ist der letzte Buchstabe des hebräischen Alphabets. Gemäß der biblischen Tradition hat Franziskus es für sich als Segenszeichen gewählt und vielfach verwendet. Er segnete Menschen damit und schrieb es unter Briefe, an Hauswände und auf Bäume. Das Symbol geht zurück auf eine Bibelstelle im Alten Testament, in der von der Heimsuchung Jerusalems die Rede ist. Dort steht, dass all jene gerettet werden sollen, die mit dem Tau auf der Stirn gekennzeichnet sind.

Für Franziskus gehörte das Tau zum Siegel der Erwählung und zum Symbol derer, die sich der Not anderer nicht verschließen. Franziskanermönche haben schon damals ihre Klöster immer inmitten der Städte gebaut. Sie wollten den Armen und Kranken besonders nahe sein.

Mitten in Berlin Pankow beispielsweise steht ganz unscheinbar ein solches Kloster, und vier Brüder kümmern sich mit einer Suppenküche, Kleiderkammer und Hygienestation um die Randgestalten der Gesellschaft. Viele Jahre lang habe ich in Berlin genau gegenüber von diesem Kloster gewohnt. In dieser Zeit habe ich sehr viel gelernt darüber, was es bedeutet, Glauben zu leben und vollkommen verbunden zu sein mit der Schöpfung. Die franziskanische Gottesnähe ist mir zum Vorbild geworden – so möchte ich Christ sein: ohne Prunk und Glitzer, in einfacher, dienender Haltung der Welt und den Menschen gegenüber und im Einklang mit allen Geschöpfen der Natur. 

Mein auf den Puls tätowiertes Tau ist rot – die Farbe der Liebe und der Kraft. Es erinnert mich täglich daran, was wirklich wichtig ist und was meinen Glauben ausmachen soll. Es ist ein Versprechen und eine Mahnung gleichermaßen: auserwählt zu sein ist ein großes Geschenk, aber auch eine große Verantwortung, die ich für den Rest meines Lebens trage … genau wie dieses Tattoo.

Über die Autorin Ulrike Lynn

Ulrike Lynn wurde 1980 in Erfurt in geboren, studierte in Berlin Germanistik und Philosophie und promovierte im Fachbereich Semiotik. Bis 2023 wirkte sie als Lehrerin und Kreativitätspädagogin an der BIP Kreativitätsgrundschule Chemnitz. Seit 1. August 2023 ist Dr. Ulrike Lynn die Beauftragte der Katholischen Kirche für die Europäische Kulturhauptstadt Chemnitz 2025.

Kontakt: hoerfunk@ulrikelynn.com