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Tina

Wort zum Tage, 16.06.2025

Ruth Schneeberger, Friesenheim

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Ich habe eine Frau getroffen, da habe ich sofort gedacht: Von ihr würde ich mir gerne eine Scheibe abschneiden. Tina war Gast in einer Talkrunde, und ich habe im Publikum zugehört. Sie ist im gleichen Alter wie ich, Mitte vierzig, schätze ich, und sie hat einen ganz speziellen Beruf.

Tina ist Psychiaterin in einer sogenannten Diamorphinpraxis in Stuttgart. Zu ihr kommen Heroinabhängige, um mit ihrer Sucht besser leben zu können. Sie bekommen von Tina Ersatzstoffe, um ihre schwere Erkrankung langfristig in den Griff zu bekommen. Und das betont Tina: Dass so eine Sucht eine schwerwiegende Erkrankung ist.

Einige ihrer Patientinnen und Patienten kommen freiwillig, aber viele müssen auch, weil das Gericht es so entschieden hat. Und dazu sagt Tina etwas, was mich wirklich beeindruckt: "Ich bin nicht die Richterin. Ich bin die Ärztin."

Einmal ist ein junger Mann vor Tina gesessen und hat gemeint: "Schauen Sie mich an. Ich bin ungefähr so alt wie Sie. Sie sind Ärztin geworden. Und ich? Ich habe nichts geschafft." Tina hat geantwortet: "Ja, auf dem Papier haben sie wirklich nichts stehen. Aber jetzt sind Sie hier – und das ist doch was!"

So höre ich Tina reden und begreife: Das ist eine tolle Eigenschaft, wenn man bei anderen das sehen kann, was da ist, und nicht das, was sein sollte. Wenn eine eben nicht gleich über den anderen urteilt, sondern an dem ansetzt, was jetzt da ist.

Und Tina zeigt trotzdem ganz klare Kante. Das erfahre ich als der Moderator Tina folgendes fragt: "Wenn Sie so mit anderen arbeiten, wo sind Ihre Grenzen?" Ihre Antwort: "Ich ziehe zwei ganz klare Grenzen. Erstens: Von mir bekommt niemand mehr als die Dosis, die vereinbart ist. Und zweitens: wenn ich mit meinen Kindern in der Stadt unterwegs bin und mir ein Patient entgegenkommt, der gerade auf Drogen ist: Dann wechsle ich die Straßenseite. Denn wer unter der Wirkung von Rauschmitteln steht, der ist oft distanzgemindert. Das müssen Kinder nicht erleben." Da bewundere ich Tina. Wie klar sie ist, aber trotzdem nicht hart. Denn sie ergreift auch Partei für ihre Patienten.

Was für ein riesiges Thema. Davon habe ich kaum was gewusst, bis ich Tina getroffen habe. Eine Frau, die so vieles gleichzeitig kann und von der ich mir deswegen gerne eine Scheibe abschneiden würde. Tina kann sich in andere einfühlen, sich dabei niemals als Richterin aufspielen und trotzdem ganz klare Kante zeigen.

Über die Autorin Ruth Schneeberger

Ruth Schneeberger, geboren 1982 in Offenburg, ist Pastoralreferentin und seit 2020 stellvertretende Rundfunkbeauftragte der Erzdiözese Freiburg beim SWR. Neben ihrem Theologiestudium in Freiburg und Graz hat sie immer gerne (Kirchen-)Musik gemacht, mit Kinder- und Jugendchören oder an der Orgel. Im Rahmen der Ausbildung zur Pastoralreferentin begann sie ihr Engagement als Autorin von Verkündigungssendungen. Ruth Schneeberger schreibt seit 2013 für SWR2 und SWR3 und hat die journalistische Ausbildung am ifp in München absolviert. Heute lebt sie im badischen Friesenheim, zusammen mit ihrem Mann, den drei Töchtern und einem halben Dorf "Großfamilie" um sie herum.