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Nackte Ansichten

Wort zum Tage, 17.07.2023

Johanna Vering, Langenberg (Westfalen)

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Ria macht Urlaub – und zwar nackt. Sie campt mit ihrer Familie, und schon seit langem gehen sie auf FKK-Campingplätze. Das heißt: ankommen, aufbauen, einrichten, ausziehen – Urlaub machen ohne Kleider. Auf dem Platz zumindest. Wenn sie ihn verlassen, ziehen sie sich wieder an. Ria sagt: "Ich finde diese Art von Urlaub total unkompliziert. Weil ich nicht ständig darüber nachdenken muss, was ich anziehe, ob es passt oder nicht, ob es gut aussieht, ob ich mich in den Klamotten wohlfühle. Und der Koffer ist natürlich viel leichter, weil ich nicht so viel mitnehmen muss."

Ich bewundere Ria und ihre Familie. Aber für mich ist das auch gewöhnungsbedürftig. Ich weiß nicht, ob das für mich und meinen Urlaub passt. Bin ich dann nicht den ganzen Tag beobachtet und umgekehrt, beobachte ich nicht ständig die anderen nackten Leute? Man muss ja nicht drumherum reden: man guckt immer, wenn jemand nackt ist.

Doch Ria sagt, dass genau das im FKK-Urlaub nicht passiert. Weil es so normal ist. Sie brauchen ungefähr eine halbe Stunde, dann sind sie drin im Leben ohne Kleider. Und was mich sehr erstaunt hat: Ria erzählt, dass sie sich manchmal erschreckt oder wundert, wenn sie die Menschen vom Campingplatz dann angezogen sieht. Wenn sie einkaufen oder essen gehen, zum Beispiel. Die Leute haben dann einen ganz anderen Stil, als sie erwartet, tragen Kleider, die ihr selbst nicht gefallen.

Und dann sagt Ria einen Satz, der mich nicht mehr loslässt: "Manchmal finde ich die angezogenen Menschen nicht mehr so schön, wie die nackten."

Diesen Aspekt finde ich unglaublich, und ich denke immer wieder darüber nach, wenn ich unter Leuten bin. Weil er zeigt, wie sehr ich mich von dem leiten lasse, was ich sehe. Von Äußerlichkeiten also. Und die können manchmal in wenigen Sekunden entscheiden, ob ich eine Person sympathisch finde, ob sie mir gefällt oder eben nicht. So gesehen konzentrieren sich Leute, die nackt campen auf das Wesentliche. Sie treffen aufeinander so wie sie sind. Ohne Umwege, ohne Barrieren.

Für mich total interessant ist, dass es dazu eine biblische Parallele gibt. Von Adam und Eva wird ja erzählt, dass sie sich nun nicht an die Regeln gehalten haben und Früchte vom verbotenen Baum gegessen haben. Und dann heißt es: "Da erkannten sie, dass sie nackt waren." Anschließend haben sie sich bedeckt, das Schamgefühl und die Missgunst sind ins menschliche Leben eingezogen – der freie, unvoreingenommene Blick auf den anderen Menschen war verstellt.

An dieses biblische Bild musste ich denken, als Ria mir von ihrem nackten Urlaub erzählt hat. Wir können uns jetzt natürlich nicht ständig alle nackt begegnen. Aber ich glaube, mein Blick hat sich schon verändert. Ich will mich wirklich nicht mehr davon leiten lassen, was Menschen anhaben. Ich will sie sehen, wie sie sind.

Über die Autorin Johanna Vering

Johanna Vering, geboren 1982 in Ostwestfalen, ist Pastoralreferentin und arbeitet als Beauftragte für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Bistum Münster. Nach dem Studium der Theologie in Freiburg und Graz und der Ausbildung zur Pastoralreferentin hat sie in der Erzdiözese Freiburg u.a. bei der Rundfunkarbeit am SWR gearbeitet und die journalistische Ausbildung am ifp in München absolviert. Nach fast 20 Jahren ging es zurück in die Heimat nach Westfalen und dort lebt Johanna Vering in Langenberg (Westf.). Sie ist verheiratet und hat drei Kinder.