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Sommerlied

Wort zum Tage, 17.07.2024

Ulrike Lynn, Chemnitz

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Im Sommer ruft mich der Wald. Er ruft mit seinen satten Grüntönen, mit seinem kühlen Schatten und all den wilden Blumen und Kräutern. Jeden Tag mache ich mit meiner Hündin Hildegard lange Spaziergänge und ertappe mich dabei, wie ich oft lauthals mein Lieblingslied singe: "Geh aus mein Herz und suche Freud". Es passt so gut in diesen Mittsommer und zur Schönheit der Natur.

Dabei sind die Klangfarben dieses Liedes von ganz anderen Bildern gerahmt. Machen wir eine kleine Zeitreise: Wir befinden uns im Jahr 1648. Soldaten ziehen durch die deutschen Lande, plündern, brandschatzen, vergewaltigen und morden. Millionen Menschen gehen elend zugrunde, aus Dörfern werden Ruinenlandschaften. Dreißig Jahre währt das Grauen. Erst als das Land ausgeblutet und verwüstet ist, kehrt wieder Frieden ein, aber viele Landstriche bleiben menschenleer. Die Not hält noch lange an, und es dauert, bis die Menschen zaghaft wieder Hoffnung schöpfen.

In diese Zeit hinein dichtet Paul Gerhard dieses bekannte und scheinbar fröhliche Lied "Geh aus mein Herz und suche Freud". Zu dem Zeitpunkt ist er ein noch unbekannter Theologe und Hauslehrer, 41 Jahre alt, ohne Examen und mangels einer sicheren Existenz auch immer noch unverheiratet. Erst Jahre später erhält er dann seine erste Pfarrstelle und kann endlich heiraten. Doch nur eines der fünf Kinder überlebt. Auch seine Frau stirbt nach zwölf Jahren Ehe, und der 61-jährige bleibt mit seinem einzigen, fünfjährigen Sohn allein zurück.

Diese persönliche Not und die Folgen des Dreißigjährigen Krieges prägen das gesamte Leben und Wirken des Dichters. Aber die positiven Inhalte seiner Lieder sind kein Verdrängen dieser Widrigkeiten. Vielmehr sind sie ein trotzig-gläubiges Festhalten an Gottes Liebe, ein bewusstes Erkennen der Schönheiten, die das Leben trotz allem zu bieten hat. So nimmt Paul Gerhardt auch den Sommer in den Blick. Und während er von Bäumen, Nachtigallen, Hirschen und Bächen erzählt, weiß er gleichzeitig um die Grenzen dieser Schönheit und lebt in der ständigen Spannung zwischen Anmut und Schmerz.

Mit seinem feinen Gespür für Sprache und Versmaß malt der Dichter ein Bild verschwenderischer Sommerfülle in der Natur. Und er versteht es als Gleichnis für die Güte Gottes, der seine Menschen nicht verlässt. Alle Schönheit der Natur ist für ihn nur eine Vorstufe der Herrlichkeit, die den Glaubenden einst im Himmel erwartet.

Ein Trostlied in schwerer Zeit also, zu singen gegen Ängste und Hoffnungslosigkeiten. Und vor diesem Hintergrund singe ich es umso lauter, wenn ich in den kommenden Sommertagen durch den Wald spaziere!  

Über die Autorin Ulrike Lynn

Ulrike Lynn wurde 1980 in Erfurt in geboren, studierte in Berlin Germanistik und Philosophie und promovierte im Fachbereich Semiotik. Bis 2023 wirkte sie als Lehrerin und Kreativitätspädagogin an der BIP Kreativitätsgrundschule Chemnitz. Seit 1. August 2023 ist Dr. Ulrike Lynn die Beauftragte der Katholischen Kirche für die Europäische Kulturhauptstadt Chemnitz 2025.

Kontakt: hoerfunk@ulrikelynn.com