Ich stehe mit einem Freund am Hauptbahnhof. Wir warten auf einen ehemaligen Klassenkameraden. Der Zug hat Verspätung. Während wir den anderen Zügen zusehen, wie sie rein und raus fahren, erinnern wir uns beide daran, dass wir früher einmal Lokführer werden wollten. Der Traum vieler Kinder. Die Spielzeugeisenbahn war dann ein kleiner Ersatz für den nicht erfüllten Berufswunsch. Aber es gibt noch mehr, was wir uns in jungen Jahren als Beruf vorgestellt haben. Aus allem ist nichts geworden.
Deshalb frage ich mich: Wie viele Gaben habe ich wohl in meinem Leben schon einschlafen lassen? Wie viele Möglichkeiten, die ich hätte entwickeln können, sind verschüttet worden im Lauf meines Lebens? Weil die Umstände dagegen waren. Weil ich die Prioritäten anders gesetzt habe. Oder, weil ich es zugelassen habe, dass etwas in mir einschläft, was ich eigentlich besser wach und am Leben gehalten hätte. Wie viele Gaben habe ich einschlafen lassen?
Manchmal fällt mir das auf. Ich habe es am Klavierspiel gemerkt. Mir ist bewusst geworden, wie selten ich nur noch spiele. Warum auch immer. Ein Glück, dass man rechtzeitig erinnert wird, und so wieder zum Leben erwecken kann, was einzuschlafen droht. Und damit auch selbst gewissermaßen wieder zum Leben erweckt wird.
Natürlich bleibt beim Blick zurück auch immer etwas Wehmut im Herzen über die verpassten Gelegenheiten des Lebens. Man kann nicht alles erreichen, weil die Zeit dafür nicht reicht. Und man muss sich irgendwann festlegen, damit man sich auch vertiefen kann in das, wofür man sich entschieden hat. Der Schmerz über das, was man nicht erreicht hat im Leben und was man nicht ausleben konnte, verstellt oft den Blick für die kleinen Talente, die man entwickelt hat.
So gibt es Menschen, die gerne mit anderen im Kontakt stehen, vielleicht ein Verkaufstalent haben. Wieder ein anderer ist handwerklich oder künstlerisch begabt, einem anderen fällt es leicht, Sprachen zu lernen und dann in ferne Länder zu reisen. Trösten, Kinder unterrichten, Kranke gesund pflegen – das alles sind Talente und Fähigkeiten, die wir bekommen haben.
Ich denke: sollte es am Ende meines Lebens so eine Art Abrechnung geben, dann möchte ich nicht beklagen, dass ich vielleicht nicht so erfolgreich war wie Bill Gates, nicht so helfend wie Albert Schweitzer oder so mutig wie Neil Armstrong, dann möchte ich sagen können: Ich war ich, mit vielen kleinen Talenten. Ich weiß, dass ich vieles nicht gelebt habe und bin dankbar für das, was mir möglich war.