Eine Zugfahrt mit dem ICE. Ich gönne mir die Platzreservierung und wähle den Ruhebereich. Als ich zusteige ist der Großraumwagen wider Erwarten halb leer. Und wunderbar still. So soll es sein. So darf es bleiben. Doch nach einigen Minuten hat der Zauber sein Ende.
Vor mir nimmt jetzt eine Dame neben einem Herrn ihren Platz ein. Auch sie ist zugestiegen und freudig angetan, dass sie – nachdem sie den Zug am falschen Ende bestiegen hatte – jetzt endlich an ihrem Platz angekommen ist. Die beiden hatten sich für die Fahrt wohl verabredet – im Ruhebereich. Es beginnt ein reges Gespräch. Alle Umsitzenden werden zu Zuhörern. Thema Nummer eins in den ersten zehn Minuten: Die Deutsche Bahn, ihre Unpünktlichkeit und das ungläubige Erstaunen, dass dieser Zug heute aber sehr pünktlich sei.
Thema Nummer zwei: Die bevorstehende Konferenz zu der beide unterwegs sind, und die persönlichen Eigenarten und Schicksale der anderen, denen sie bald begegnen. Die Gefühlsskala schwankt von Mitleid bis Häme. In mir wächst das Unbehagen, ungewollt an einem Gespräch teilzuhaben, das mich erstens nichts angeht und zweitens auch nicht allzu sehr interessiert – von einigen Passagen abgesehen. Anstatt Ruhe zu haben und meinen eigenen Gedanken nachzuhängen, verbringe ich die Zeit damit, meinen Groll über diese Rücksichtslosigkeit zu zügeln.
Ich führe eine Diskussion mit mir selbst, in der ich meinen Ärger kundtue, hin und her überlege, mir einen anderen Platz zu suchen oder tolerant über alles hinweg zu hören. Als wir am Zielbahnhof ankommen, stehe ich von meinem Platz auf und deute im Vorbeigehen den beiden Vorderleuten auf das Spruchband: "Ruhebereich" – "Quiet Zone", steht da. Ich bitte sie, ausgesprochen höflich, sich wenigstens bei der Rückfahrt daran zu halten und verlasse den Zug.
Ich weiß, andere sind klarer, ehrlicher, mutiger. Äußern sich vielleicht frühzeitiger, wenn etwas stört. So ganz zufrieden bin ich darum mit mir nach dieser Zugfahrt nicht. Anderseits riskiert man ja schon gleich die Eskalation, wenn man sich positioniert. Ich frage mich: Gehen uns die grundlegenden Haltungen des Zwischenmenschlichen verloren?
"Was ihr wollt, das euch die anderen tun, das tut ebenso auch ihnen", sagt Jesus im Matthäusevangelium und lange nach ihm formuliert der Philosoph Immanuel Kant: "Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt."
Ich glaube: Das Nebeneinander und Miteinander – nicht nur im ICE-Ruhebereich – würde sich anders anfühlen, wenn wir das wieder lernen würden.