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Mutter Teresa

Wort zum Tage, 18.07.2024

Ulrike Lynn, Chemnitz

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Chemnitz wird im kommenden Jahr europäische Kulturhauptstadt. Unter dem englischen Motto "C the unseen" – im übertragenen Sinne zu übersetzen mit "Siehe das Ungesehene" – stellt sich die Stadt ihren Brüchen und Wunden und lenkt den Blick auf das, was im Verborgenen liegt.

Es ist eine leicht zu übersehene und oft auch eine ungesehene Stadt. Eine Stadt mit offenen Wunden, Zerwürfnissen und Widersprüchen, eine Stadt mit zwei Namen: Chemnitz und Karl Marx Stadt. Als drittgrößte Stadt in Sachsen steht sie in Konkurrenz zum prunkvollen Dresden und zum angesagten Leipzig. Dabei ist auch Chemnitz voller fesselnder Geschichten, wundersamer Begegnungen und Persönlichkeiten, an die man vielleicht nicht sofort denkt, wenn man die graue Industriestadt vor Augen hat … wie zum Beispiel die Nähe zu Mutter Teresa.

Diese kleine und zarte, aber äußerst willensstarke Frau verbindet mit Chemnitz nämlich eine ganz besondere Geschichte, die vor 40 Jahren ihren Anfang nimmt: Als sie in Rom besucht und gefragt wird, ob sie nicht neben Ost-Berlin noch eine zweite Niederlassung ihres Ordens in der DDR gründen möchte. Man hält ihr den Atlas vor die Nase, zeigt mit einem Finger auf den Ort, und Mutter Teresa muss nicht lange überlegen … "Karl-Marx-Stadt? Das machen wir!"

Wenige Monate später brettert sie mit vier anderen Ordensschwestern, einem Pfarrer und einer Fotografin auf der Ablage des Kofferraums im Trabbi über die Autobahn des deutschen Ostens nach Karl-Marx-Stadt, um dort das Ungesehene zu entdecken. Natürlich streng beobachtet von den Funktionären der Stasi, die allerdings einer ganz anderen Art des Ungesehenen hinterher waren.

Und das, was Mutter Teresa sieht, ist dem Staat ein Dorn im Auge – Arme in der DDR? Das war für die Häupter der Stadt schwer zu verwinden, aber einer Friedensnobelpreisträgerin konnte man nicht die Tür weisen. Und so musste sich selbst eine Regierung, die eigentlich keine Armut kennen wollte, einlassen auf diese radikale Form der Nächstenliebe, die Mutter Teresa nach Chemnitz brachte und die noch heute so viel Licht wirft auf Ungesehenes.

Die Schwestern haben ihre Niederlassung seitdem auf dem Chemnitzer Sonnenberg, einem sozialen Brennpunkt, der in seinen stillen Ecken von Armut und Ausgrenzung erzählt.  Gerade weil die Nöte an jedem Ort andere sind und sich mit dem Blick der Liebe leichter finden lassen, hinterlassen Mutter Teresa und ihre Nachfolgerinnen dort wichtige Spuren der Unterstützung und Geborgenheit.

Über die Autorin Ulrike Lynn

Ulrike Lynn wurde 1980 in Erfurt in geboren, studierte in Berlin Germanistik und Philosophie und promovierte im Fachbereich Semiotik. Bis 2023 wirkte sie als Lehrerin und Kreativitätspädagogin an der BIP Kreativitätsgrundschule Chemnitz. Seit 1. August 2023 ist Dr. Ulrike Lynn die Beauftragte der Katholischen Kirche für die Europäische Kulturhauptstadt Chemnitz 2025.

Kontakt: hoerfunk@ulrikelynn.com