In Prenzlau, nördlich von Berlin gelegen, habe ich einen älteren Herrn am Bahnhof beobachtet. Es war kalt und zugig. Er hatte eine warme Jacke, aber nur eine dünne Hose an. In der Hand hielt der Mann eine Tüte. Es sah aus, als hätte er eingekauft. Auf dem Rücken trug er einen alten Rucksack. Keine besonders auffällige Erscheinung. Und doch war irgendwas Besonderes an diesem Mann.
Es schien, als wartete er auf den Zug in Richtung Berlin. Doch als der Zug kam, stieg er nicht ein. Er stand nur weiter am Bahnsteig und schaute ein wenig verloren drein. Vielleicht wartete er auf jemand anderen. Aber dafür blickte er nicht suchend genug umher. Der Schaffner hat ihn dann noch angesprochen: "Na! Junger Mann, wolln se noch mit"? Er aber hat den Kopf geschüttelt und abgewunken.
Ich habe den Fremden noch ein wenig aus dem Zugfenster heraus beobachtet. Und mir gingen ein paar Bilder durch den Kopf von Engeln, die Menschen werden, und auf Erden etwas hilflos umherlaufen, dabei aber allerhand Abenteuer erleben. Manche kennen das von Wim Wenders Film "Himmel über Berlin". Da wird auch erzählt, wie ein Engel freiwillig seine Flügel ablegt und zu einem Sterblichen wird.
Warum? Weil er das wahre Leben sucht. Nicht die himmlische Existenz eines Erlösten, sondern die aufregenden Erfahrungen der irdischen Liebe, die Niederungen von Leidenschaft, Schmerz, Hunger und letztlich Sterben und Tod. Nur um diesen Preis ist das Leben auf Erden zu haben. "Ich weiß jetzt, was kein Engel weiß", so fasst der Ex-Engel Damiel im Film seine "Menschengeschöpferfahrung" zusammen.
Für mich ist das eine Botschaft, die trotz ihrer Nüchternheit zu Weihnachten passt. Wo allenthalben viel Rummel um die himmlischen Boten gemacht wird: Engel sind ja deswegen so beliebt, weil sie eine süße Botschaft verkörpern: es gibt das wahre, schöne und gute Leben, und es gibt jemanden, der mir den Weg dahin weisen könnte. Engel sind Chiffren, Platzhalter unseres Wunsches, dass eine Welt voller Frieden und Freude nicht erst im Himmel, sondern schon auf Erden möglich ist. Auch wenn es hier oft menschelt, wenn es Einsamkeit, Enttäuschung und vielleicht sogar Verbitterung gibt.
Der ältere Herr vom Prenzlauer Bahnhof ist für mich zu einem Engel geworden, besser gesagt zu einem Anti-Engel, mit einer besonderen und ungewöhnlichen Botschaft: einer Gegenbotschaft für alle, die gerne als Übermensch dastehn wollen, die an ihrer Unsterblichkeit arbeiten, und dabei sich und andere überfordern. Selbst Engel wären, wenn man sie ließe, lieber ganz normale Menschen.