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Lebensruf

Wort zum Tage, 19.06.2023

Sabine Lethen, Essen

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"Oma, dein Auto hat ja gar keinen Fernseher", stellt meine Enkelin fest, als ich mein Handy in die Halterung stecke, um die Navi-Funktion zu nutzen. Ich erkläre der Fünfjährigen, dass mein Auto älter sei, als all die anderen Autos, die sie kennt. Und, dass es früher, als mein Auto gebaut wurde, noch keine Navis gab, die fest eingebaut wurden. Daraufhin fragt meine Enkelin: "Wusste man früher noch selbst, wohin man wollte?" Schmunzelnd erzähle ich von Straßenkarten, die auf Papier gedruckt waren, die ich mir vor der Abfahrt genau angeschaut habe und dass ich dann trotzdem unterwegs immer wieder anhalten musste, um zu schauen, wo ich als nächstes abbiegen muss.

In mir arbeitete noch tagelang Charlottes Frage: "Wusste man früher selbst, wohin man wollte?" Woher weiß ich eigentlich, wohin ich will? Was gibt mir Ziel und Richtung? Was hat mich die Wege einschlagen lassen, die ich in den letzten Jahrzehnten gegangen bin?

Ganz ehrlich: Meistens bin ich ohne "Karte" aufgebrochen. Mit einer Idee davon, wohin ich wollte – ohne zu ahnen, was mich tatsächlich erwarten würde … ob es um meinen Berufswunsch ging, meinen Entschluss zu heiraten, um meine Sehnsucht mit Kindern zu leben. Am Anfang stand ein Gefühl, vielleicht eine Ahnung – keineswegs klare Vorstellungen. Die wirklich wichtigen Wege habe ich ohne verlässliche Vorab-Informationen eingeschlagen und ohne Karte fortgesetzt.

Am Anfang stand Sehnsucht – und eine Haltung, die ich manchmal als grenzenlose Naivität bezeichne und manchmal als tiefes Gottvertrauen. Und nachdem ich einmal aufgebrochen und unterwegs war, eine wachsende Sicherheit: "Das wird. Ich weiß noch nicht, wie und auf welchem Weg oder Umweg – aber es wird."

Diese wachsende Sicherheit nenne ich heute "Lebenskraft". Auch "Trotzkraft" trifft den Kern. Trotz aller Überraschungen am Wegesrand, trotz aller Anstrengung, trotz aller Sackgassen immer wieder weitergehen können – wiederum ohne verlässliche Infos zu dem, was mich hinter der nächsten Kurve erwartet, immer noch ohne Karte.

Hermann Hesse meint, es sei "des Lebens Ruf", der uns zum Aufbruch lockt. Und er stellt fest, dass jedem Anfang ein Zauber innewohnt, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Auch das passt.

Über die Autorin Sabone Lethen

Sabine Lethen, Jahrgang 1958, ist verheiratet, Mutter von vier erwachsenen Töchtern und Großmutter. Im Laufe des Lebens absolvierte sie eine Ausbildung zur Erzieherin, das Studium der Sozial- sowie der Religionspädagogik. Seit 2003 steht sie als Seelsorgerin im Dienst des Bistums Essen, seit 2017 leitet sie dort eine Gemeinde innerhalb einer Essener Pfarrei.

Kontakt: sabine.lethen@bistum-essen.de