Meinen linken Oberarm ziert ein Tattoo: Ein Papierschiff. Meine drei erwachsenen Töchter in Hamburg, Leipzig und Hannover tragen das gleiche Symbol. Meine Frau – sie mag keine Tattoos – hat das Papierschiff als Zeichnung über das Sofa gehängt. So verbindet dieses Bild uns alle über Krisen und Entfernungen hinweg. Ich weiß gar nicht, ob ich heute noch – wie in meiner Kindheit – aus einem Blatt Papier ein solches Schiffchen falten könnte. Damals, als Kinder, haben wir das blitzschnell hinbekommen und die Schiffchen auf der Ems oder auf Pfützen schwimmen lassen.
Mich verbindet mit diesem Zeichen noch mehr: Die Erinnerung nämlich an ein Buch aus meinem Elternhaus: Josef Reding hat es Anfang der 60er Jahre geschrieben. Der Titel lautet: "Papierschiffe gegen den Strom". Der katholische Schriftsteller berichtet darin von seinen Aufenthalten in Asien, Afrika und Lateinamerika. Dort sah er den Hunger und an Lepra erkrankte Menschen, in den Südstaaten der USA erlebte er Rassismus und die Bürgerrechtsbewegung, knüpfte Kontakte zu Kreisen um Martin Luther King. Die "im wahrsten Wortsinn grenzenlose Not" des Menschen verlange nach Ausdruck, schreibt Reding später im Vorwort seines Buches. Die darin enthaltenen Erzählungen versteht er als Papierschiffe, die gegen den Strom der Gleichgültigkeit kämpfen.
Das Bild lässt mich nicht los. Papierschiffe, die immer in Gefahr sind, vom Strom erfasst und abgetrieben zu werden. Aber sie sind viel mehr. Reding schreibt: "Die kleinen Schiffe trugen unsere Hoffnungen, die groß waren und verwundbar. Manchmal aber gelang es einem der fragilen Gebilde, sich in die Richtung zu kämpfen, die wir erträumten. Die Ziele lagen hinter dem Horizont. Sie hießen Weite, ungetrübte Helle und eine Luft, die alle frei atmen können."
Papierschiffe gegen den Strom, die die Hoffnung tragen: Nach dem Tod meiner Eltern fand ich versteckt in einem alten Schreibtisch die Kopie einer der berühmten Predigten des Münsteraner Bischofs von Galen gegen die Euthanasieprogramme der Nationalsozialisten. Sie wurden unter Gefahr und heimlich weitergegeben.
Papierschiffe gegen den Strom, die die Hoffnung trugen, das waren auch die Gebete in der Leipziger Nikolaikirche, die die friedliche Revolution mit einleiteten.
Papierschiffe gegen den Strom sind für mich heute Briefe von Partnern aus Russland, die mir von der inneren Not der Menschen in diesen Zeiten berichten – jedes Wort sorgsam wägend.
Literatur als Engagement für den Menschen. Dazu bekannte sich Josef Reding. Das hat mich gepackt! Die Papierschiffe gegen den Strom sind mir unter die Haut gegangen: Wie das Tattoo!