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Irgendjemand macht‘s

Wort zum Tage, 20.12.2022

Guido Erbrich, Biederitz

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In einem Buchladen traf ich eine alte Dame. Ach, sagt sie, mir fällt zwar ihr Name nicht ein, aber schreiben sie nicht immer die schönen Artikel in der Zeitung? Als ich überrascht bejahe, fährt sie fort: sie sind aber viel jünger und dünner als auf dem Foto, das immer neben ihrem Beitrag abgedruckt ist. Logisch, dass mich das Lob freut. Das könnte meine Frau ruhig mal zu mir sagen, denke ich mir.

Wir kommen ins Erzählen und die alte Dame lässt mich ein wenig an ihrer Lebensgeschichte teilhaben. Eine Begebenheit, die über 6 Jahre her ist, nagt immer noch an ihrer Seele. Jahrzehntelang hat sie in einem Chor gesungen, dort auch Gitarre gespielt und als Ehrenamtliche Vieles mitgemacht. Kurz vor einem wichtigen Auftritt wurde sie krank, kam ins Krankenhaus und konnte nicht mitsingen. In der ganzen Zeit ihres Krankseins hörte sie nichts von ihrem Chor. Niemand rief an, keiner kam vorbei oder richtete Grüße aus. Für sie war das eine massive Enttäuschung und es war ihr anzuhören, sie wirkt noch immer. Einige Monate später zog sie aus der Stadt weg. Mit ihren ehemaligen Mitsängerinnen- und Sängern hat sie nie darüber gesprochen. Aber noch immer trägt sie diesen Frust im Herzen, wenn sie auf das Thema kommt.

Ob hinter diesem Erleben eine Bosheit des Chores steckt, weiß ich nicht. Vermutlich ist es viel banaler. Jeder hat vielleicht gedacht, es wird sich schon jemand bei ihr melden. Der Chorleiter, die Leute aus der Stimmgruppe, diejenigen, mit denen sie meist nach dem Singen quatscht. Bloß, keiner hat`s dann tatsächlich gemacht. Und keiner hat von ihrer tiefen Enttäuschung etwas mitbekommen. Und da sie selbst niemanden später davon berichtet hat, ist sie bis heute diesen Frust nicht los. Vielleicht liegt die Ursache in dem, was Psychologen pluralistische Ignoranz oder auch Verantwortungsdiffusion nennen. Einfach gesagt: Menschen fühlen sich weit weniger verantwortlich etwas zu tun, wenn viele andere da sind, die was tun könnten. Und zum Schluss sind alle erschrocken, dass überhaupt niemand was gemacht hat.

Dahinter steckt nun keine Bosheit. Sind wir Menschen in Gruppen unterwegs, übertragen wir unsere eigene Verantwortung gern auf sämtliche Anwesenden. Umgekehrt ist unsere Bereitschaft zu helfen weit größer, wenn wir die die Einzigen sind, die etwas tun können. Aber leider, so stellten die Psychologen fest, glauben die meisten Menschen in Gruppen: irgendeiner wird sicher was gemacht haben.

Gehen wir also sensibler miteinander um, gerade dann, wenn die Versuchung groß ist, zu denken, jemand wird es schon machen. In solchen Situationen ist es gut, wenn aus „Irgendjemand“ ich selbst werde.  

Über den Autor Guido Erbrich

Guido Erbrich, geboren 1964, ist Vater von vier Töchtern. Er lernte den Beruf des Tontechnikers bei Radio DDR und arbeitete bis 1987 beim Sender Leipzig. Danach schloss er ein kirchliches Abitur in Magdeburg ab. Sein Studium der Theologie führte ihn nach Erfurt, Prag und New Orleans. Im Bistum Dresden-Meißen war Erbrich bis 2002 Referent in der Jugendseelsorge. Danach wechselte er als Studienleiter und Referent ins Bischof-Benno-Haus nach Schmochtitz. Bis 2010 leitete Erbrich die Katholische Erwachsenenbildung Sachsen. Von 2010 bis 2020 war er Leiter der Heimvolkshochschule Roncalli-Haus Magdeburg. Seit 2020 ist er der Senderbeauftragte der Katholischen Kirche für den MDR.

Kontakt: Guido.Erbrich@bddmei.de