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Letzter Eindruck

Wort zum Tage, 21.06.2023

Sabine Lethen, Essen

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Vor Beginn einer Beerdigung bekomme ich das Gespräch zwischen zwei Frauen mit, die schon mal Platz in der Trauerhalle genommen haben. Vorne ist ein Foto der Verstorbenen aufgestellt. "Guck mal, wie mürrisch sie da guckt. Das Bild hätte ich nicht genommen," sagt die eine. "Na, so war sie halt auch", meint die andere. "Ja – aber so was präsentiert man doch nicht als letzten Eindruck?! Also, wenn ich mal tot bin, sollen die Kinder kein Bild von mir aufstellen."

Ich frage mich: Was soll denn der letzte Eindruck sein, den ich mal hinterlasse? Ich denke nicht, dass ein Foto in der Trauerhalle entscheidend sein wird. Ich denke auch, dass es nicht ein letzter Eindruck sein wird, sondern eine Fülle von Eindrücken – ganz unterschiedliche, sogar gegensätzliche werden es sein.

Ich war und bin so viel: Kind meiner Eltern, Schwester meines Bruders. Ehefrau meines Mannes. Mutter meiner Töchter. Ich bin Freundin, Patentante, Nachbarin, Kollegin. All das gehört zu mir, all das macht mich aus. Und alle gewinnen andere Eindrücke.

Ich bin doch viel mehr als mal freundlich und mal mürrisch. Ich habe schon so vieles gedacht, erlebt, gefühlt und empfunden. So vieles hat sich im Laufe der Jahre und in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder anders angefühlt.

Als ich vor Jahren die Bücherregale meines Vaters ausräumen musste, dachte ich "Was hat der nicht alles gelesen?!" Heute denke ich: "Was mag er beim Lesen dieser Bücher gedacht und empfunden haben? Was hat ihm welches Buch bedeutet?" Ich habe keine Ahnung.

Im Psalm beten Menschen seit 3000 Jahren: "Du hast mich erforscht und kennst mich. Ob ich sitze oder stehe, du kennst es. Du durchschaust meine Gedanken von fern. Ob ich gehe oder ruhe, du hast es gemessen." Was für eine Vorstellung! Da soll mich jemand ganz und gar kennen – in meiner komplexen Ganzheit. Der Gedanke an ein solches Gegenüber kommt mir irgendwie verrückt vor – und beruhigt mich.

Da macht sich jemand die Mühe, mich zu erforschen. Weil ich es wert bin. Mich zu erfassen, mich ganz und gar zu erkennen – das ist doch unsagbar viel mehr als all die Eindrücke, die ich hinterlasse.

In dem Psalm-Gedanken fühle ich mich angenommen und rundum aufgehoben.

Über die Autorin Sabine Lethen

Sabine Lethen, Jahrgang 1958, ist verheiratet, Mutter von vier erwachsenen Töchtern und Großmutter. Im Laufe des Lebens absolvierte sie eine Ausbildung zur Erzieherin, das Studium der Sozial- sowie der Religionspädagogik. Seit 2003 steht sie als Seelsorgerin im Dienst des Bistums Essen, seit 2017 leitet sie dort eine Gemeinde innerhalb einer Essener Pfarrei.

Kontakt: sabine.lethen@bistum-essen.de