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Wunden und Narben

Wort zum Tage, 22.05.2024

Andrea Wilke, Arnstadt

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Im Erfurter Dom St. Marien, der Kathedrale des Bischofs von Erfurt, steht seit einigen Wochen eine moderne Stele aus Eichenholz. Sie trägt den Titel "Synagoge und Ekklesia", was so viel wie Judentum und Christentum bedeutet. Aber warum steht diese Stele nun im Erfurter Dom? Hat es ein neues Kunstwerk gebraucht? Die Antwort liegt in den antijüdischen Schmähdarstellungen, die es im und am Dom gibt. Sie sind Zeugnisse einer verhängnisvollen Einstellung der Kirche gegenüber den Juden in früheren Jahrhunderten.

Schon sehr früh wurde mit theologisch begründeten Aussagen der Judenhass begünstigt. Dieser irrationale Hass entlud sich dann vor allem in Zeiten sozialer Spannungen. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in den 1960er Jahren ist in der katholischen Kirche ein Wandel im Verhältnis zu den Juden eingetreten. Immer noch sichtbar sind aber die Bildsymbole, zum Beispiel am Chorgestühl des Erfurter Doms, mit denen in teils widerwärtiger Weise Juden dargestellt wurden. Wäre es nicht das Beste, sie einfach zu entfernen? Sie sind doch Vergangenheit. Jetzt ist doch alles ganz anders.

Es ist nicht nur der Denkmalschutz, der gegen eine Entfernung der Schmähdarstellungen argumentiert. Es ist vielmehr die Überzeugung, dass sich Vergangenheit nicht einfach auslöschen lässt. Die Wunden, die geschlagen wurden, haben Narben hinterlassen. Man kann sie nicht einfach abschleifen und so tun, als hätte es diese Schuld nie gegeben. Mir kommt ein Lied von Reinhard Mey in den Sinn. Da geht es nicht um Juden und Christen, sondern um ihn und eine andere Person und er singt: "Denn von jeder Wunde, die ich dir zugefügt hab, bleibt auch mir eine Narbe zurück." Genau das ist es. Der Schaden, der einem anderen zugefügt wird, hinterlässt bleibende Spuren auch beim Verursacher. Das ist gut. Denn das verhindert das Vergessen.

Wenn wir unsere Geschichte vergessen, haben wir keine gute Zukunft. Die Stele im Erfurter Dom zeigt auf eindrucksvolle Weise die spannungsreiche Geschichte von Christen- und Judentum und ihre gemeinsamen Wurzeln. Sie verweist zugleich darauf, dass bei aller Schuld Versöhnung und eine friedfertige Zukunft möglich sind.

Über die Autorin Andrea Wilke

Andrea Wilke wurde 1964 in Potsdam-Babelsberg geboren. 1989 - 1995 studierte sie Katholische Theologie in Erfurt und war danach bis 2002 tätig in der Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte an der Universität Erfurt. Sie ist Onlineredakteurin für die Homepage des Bistums und Rundfunkbeauftragte für den MDR im Bistum Erfurt.

Kontakt: Bischöfliches Ordinariat, Onlineredaktion, Herrmannsplatz 9, 99084 Erfurt

http://www.bistum-erfurt.de; awilke@bistum-erfurt.de