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Was das Wissen verbirgt

Wort zum Tage, 22.10.2024

Stefan Quilitz, Köln

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Ab und zu, das ist so eine alte Gewohnheit von mir, blättere ich in einem Gedichtband. Gedichte enthalten manchmal tolle Gedanken und Wahrheiten, ausgedrückt in prägnanten Sätzen. Und die sprechen mich an. Es macht mir Spaß, an solchen, ja, "Satzfetzen" hängen zu bleiben und ein bisschen zu grübeln, warum ich da hängengeblieben bin. Was meint der Autor, die Autorin und was lese ich daraus?

Ich will dann solche Sätze oder gar ganze Gedichte nicht, wie es im Deutschunterricht auf dem Unterrichtsplan steht, interpretieren. Nein, mir reicht es, dem möglichen "Hintergedanken" eines Gedichts nachzuspüren. Daran habe ich Freude. Erahnen, was sich in dem Gedicht oder in dieser einen Gedichtzeile verbirgt, ohne es gleich verstehen zu müssen. Es ist wie der Blick in eine nebelverhangene Landschaft: ich erkenne sie nicht, noch nicht, aber ich ahne sie hinter dem Nebel.

So fand ich beim Blättern in einem Gedichtband von Ingrid Mylo diesen Satz: "Gedichte brennen den Blick frei / auf das, was das Wissen verbirgt." Das ist so eine Zeile. Ich ahne, was die Lyrikerin meint, ohne es gleich in Worte fassen zu können. Es ist ein Fingerzeig darauf, dass es weitaus mehr gibt als Fakten und Wissen. Meint sie das Unbewusste? Vielleicht Geist und Seele, all das, was den Menschen in seinem Inneren ausmacht?

So wie es mir mit den Gedichten oder auch der Landschaft im Nebel geht, so geht es mir auch mit religiösen Ritualen, Zeremonien oder Gottesdiensten. Das Heilige wird darin angedeutet, wird teils ganz im Verborgenen gefeiert. In der orthodoxen Kirche sind es die reich verzierten Bilder und die geheimnisvollen Gesänge. In der katholischen Eucharistiefeier ist es oft der Einsatz des Weihrauchs. Das Göttliche, das ich als Ganzes gar nicht erfassen kann, das ich nur erahnen und schon gar nicht in Worte fassen kann, wird angedeutet durch Symbole, die, wie der Philosoph Albert Görland schreibt, "das Gemüt öffnen zur Feierlichkeit einer Ahnung, wie alles in eins greift: Ewiges und Vergängliches, (…) Geist und Leben".

Und so geht es mir auch mit den Menschen, denen ich begegne, die mir gegenüberstehen, mit denen ich ins Gespräch komme. Sie erzählen von sich, lassen mich teilhaben an dem, was sie ausmacht und bewegt. Aber es bleibt in ihrem Inneren vieles im Verborgenen, dass ich allenfalls erahnen kann. Gerade das aber, was hinter dem Wissen liegt, macht die Begegnung und auch das Miteinander so spannend und geheimnisvoll und auch kostbar.

Quellen:
Ingrid Mylo, Gedicht "In den Nächten, woanders", In "Überall, wo wir Schatten warfen", edition azur im Verlag Voland & Quist, 2021, S. 73

Albert Görland, "Religionsphilosophie als Wissenschaft aus dem Systemgeist des kritischen Idealismus", Berlin/Leipzig, 1922, zitiert nach: Wolfram Hogrebe, "Ahnung und Erkenntnis", Suhrkamp-Verlag, 1996, S. 67

Über den Autor Stefan Quilitz

Stefan Quilitz, Jahrgang 1959, in Hagen Westf. geboren. Studium der Germanistik, Pädagogik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften in Köln. Beruflich als Journalist und Erwachsenenbildner tätig, u.a. stellvertretender Chefredakteur des Domradios und Leiter des Katholischen Bildungswerks und der Katholischen Familienbildungsstätte in Wuppertal. Vater von drei Kindern und aktuell "Teilzeitvertrag" als Großvater.