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Richtig loben

Wort zum Tage, 23.05.2024

Andrea Wilke, Arnstadt

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Einer der schönsten Sätze, den ich kenne, ist dieser: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Es ist der erste Satz von Artikel 1 unseres Grundgesetzes und er gibt die Richtung für alle weiteren Artikel vor. Heute wurde unser Grundgesetz 75 Jahre alt- Happy Birthday! Auf dass die Würde des Menschen immer Vorrang vor allen anderen Überlegungen hat!
Wie unwürdig Menschen zum Teil behandelt werden, muss ich hier nicht aufführen.

Aber ich möchte trotzdem an eine Episode erinnern, in der es für mich um die Würde eines Menschen ging. Sie spielte sich vor wenigen Wochen ab. Und zwar im thüringischen Eichsfeld, in Ershausen. Dort gibt es eine wunderschöne Einrichtung für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Sie arbeiten dort und sie leben dort. Mit ihnen zusammen wurde ein Sonntagsgottesdienst gefeiert, der auch im Radio übertragen wurde. Ein junger Mann, der in dieser Einrichtung lebt, las einige Texte in diesem Gottesdienst vor. Ich war begeistert, wie gut er das konnte. Er artikulierte brillant und verlieh den vorgelesenen Texten eine starke Ausdruckskraft.

Als der Gottesdienst vorbei war, bin ich gleich zu ihm hin. "Das haben Sie ja toll gemacht! Das war richtig gut gelesen", schoss es euphorisch aus mir heraus. Der junge Mann sah mich an und sagte ein bisschen abwehrend: "Das war doch gar nichts." An seiner Haltung und wie er das sagte, erkannte ich, dass er das nicht aus falscher Bescheidenheit gesagt hatte. Vielmehr meinte ich herauszuhören, dass ich ihn nicht für etwas loben sollte, was für ihn völlig normal war. Dass er eben gut lesen konnte.

Ich kam ins Nachdenken. Hätte ich einen Nichtbehinderten auch mit so einem stürmischen Lob überschüttet? Hatte sich mein Lob für den jungen Mann vielleicht so angehört, dass er das mit dem Lesen prima hinbekommen hat, und das obwohl er behindert ist? Das hatte ich natürlich nicht gewollt. Und es war eine Lektion für mich, sensibler zu sein.

Ein gutgemeintes Lob kann eben auch daneben gehen. Es kann die Würde des Betroffenen verletzen. Vielleicht hat ihn mein überschwängliches Lob erst recht daran erinnert, dass er eine Beeinträchtigung hat. Wir haben uns dann noch eine ganze Weile unterhalten. Er erzählte mir von seinem Leben, was er mag und was nicht. Zum Schluss hat er mir ein Kompliment gemacht. Und auf das bin ich richtig stolz: Er findet mich super!

Über die Autorin Andrea Wilke

Andrea Wilke wurde 1964 in Potsdam-Babelsberg geboren. 1989 - 1995 studierte sie Katholische Theologie in Erfurt und war danach bis 2002 tätig in der Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte an der Universität Erfurt. Sie ist Onlineredakteurin für die Homepage des Bistums und Rundfunkbeauftragte für den MDR im Bistum Erfurt.

Kontakt: Bischöfliches Ordinariat, Onlineredaktion, Herrmannsplatz 9, 99084 Erfurt

http://www.bistum-erfurt.de; awilke@bistum-erfurt.de