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Geflüchtet

Wort zum Tage, 23.06.2023

Sabine Lethen, Essen

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Am 24. Februar letzten Jahres saß ich wie erstarrt vor dem Fernseher: Russische Soldaten überfallen die Ukraine. Nicht zu fassen, was ich da sah und hörte. Das konnte doch nicht wahr sein: Krieg in Europa. Wie oft hatte ich als Kind den Satz gehört: "Krieg – das sollt ihr nie erleben." Und obwohl meine Eltern und Großeltern niemals konkret wurden, spürte ich tiefen Ernst und große Sorge in ihren Worten.

Ein paar Wochen nach Kriegsbeginn lernte ich erstmals Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine persönlich kennen. Wir hatten Räume unserer Kirchengemeinde zu Wohnraum gemacht, Betten, Wäsche und Regale organisiert, den Kühlschrank befüllt, Brot und Mineralwasser gekauft. Und dann standen sie auch schon da: drei Männer, etliche Frauen und Kinder, ein Hund, zwei Katzen. Die Erwachsen hatten in jeder Hand ein Gepäckstück, die Kinder trugen kleine Rucksäcke. Schnell wurde deutlich, dass sie mehr als Taschen und Tüten mitgebracht hatten – sie hatten ihr Leben im Gepäck. Die Sorge um alle, die in der Heimat geblieben waren, die Sehnsucht nach dem Zuhause, nach Freunden und Verwandten, nach dem Gewohnten. Was hat dieser Krieg ihnen nicht alles genommen!

Und was haben sie uns trotz all dieser Erfahrungen von Schmerz und Kummer seither nicht alles gegeben. Regelmäßig laden sie uns ein, kochen und backen für uns, zeigen Fotos von daheim, erzählen von zuhause und beeindrucken mich immer wieder mit ihrer Art, ihren Glauben zu leben.

Jede Geburtstagsfeier beginnt zum Beispiel mit einem großen Dankgebet: Sie danken Gott, für den Menschen, der ihrer Gemeinschaft da geschenkt ist. Sie zählen auf, was das Geburtstagskind einzigartig und ganz besonders für sie macht und sie bitten Gott um Segen für das neue Lebensjahr. Erst dann erklingt ein kräftiges "Happy Birthday" und erst dann wird die Torte angeschnitten.

Überhaupt ist das Gebet ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens. Wenn sie hören, dass jemand von uns krank ist, drücken sie nicht etwa die Daumen, sondern beten um Gesundung. Ihr "God bless you" klingt so aufrichtig, dass ich eine Gänsehaut bekomme – und mich wirklich gesegnet fühle.

Sie tragen nicht nur den Geburtstags-Dank, sondern auch ihre Trauer, Wut und Verzweiflung vor Gott und beten täglich um Frieden. Krieg ist grauenhaft. Und ich erlebe, wie Menschen sich in diesem Grauen getragen und begleitet fühlen. Auf mein "Wie haltet ihr das alles nur aus?" tippen sie ins Übersetzungsprogramm: "Gott ist immer mit uns. Wenn wir am Ende sind, werden wir getragen."

Über die Autorin Sabine Lethen

Sabine Lethen, Jahrgang 1958, ist verheiratet, Mutter von vier erwachsenen Töchtern und Großmutter. Im Laufe des Lebens absolvierte sie eine Ausbildung zur Erzieherin, das Studium der Sozial- sowie der Religionspädagogik. Seit 2003 steht sie als Seelsorgerin im Dienst des Bistums Essen, seit 2017 leitet sie dort eine Gemeinde innerhalb einer Essener Pfarrei.

Kontakt: sabine.lethen@bistum-essen.de