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Weiße Strümpfe

Wort zum Tage, 23.10.2023

Andrea Wilke, Arnstadt

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Zu meinen Erinnerungen an die Kindheit gehören weiße Strümpfe. Allerdings waren diese dem Sonntag vorbehalten. Meine Mutter war da sehr eigen und unerbittlich. Auch die schöneren Sachen, die meine Schwestern und ich hatten, durften wir nur am Sonntag anziehen. Und ich erinnere mich, dass mein Großvater am Sonntag für den Gottesdienstbesuch seinen guten Anzug anzog.

Sobald er wieder zu Hause war, wurde dieser fein säuberlich in den Schrank gehängt. Auf diese Art und Weise blieb sein guter Anzug über Jahrzehnte wie neu. Wenn meine Schwestern und ich sonntags aus der Kirche heimkamen, hieß es auch für uns die guten Sachen wieder auszuziehen. Sie könnten ja beim Spielen ramponiert werden. Also undenkbar für meine Mutter, sie an den Werktagen in der Schule zu tragen.

Die weißen Stümpfe aber, die waren eine Ausnahme. Die durften wir anbehalten und auch noch am Montag anziehen. Und das wollte ich unbedingt. Bei allem, was ich tat, hatte ich immer den Gedanken im Hinterkopf, dass die Strümpfe auch reinweiß blieben. Dadurch wurden meine von mir so geliebten weißen Strümpfe im übertragenen Sinn zum Korsett; sie engten mich ein. Rumtoben im Garten? Undenkbar.

Das Schonen unserer guten Sonntagskleidung hatte außerdem noch den unerfreulichen Effekt, dass sie uns, nur an den wenigen Sonntagen getragen, schnell zu klein wurde. Sie sah zwar noch tadellos aus. Aber wem nützte das? Meine Schwestern und ich fanden schon damals die Einstellung meiner Mutter in dieser Sache und ihre Unerbittlichkeit einfach nur furchtbar und kontraproduktiv.

Heute erlebe ich ähnlich gelagerte Situationen. Bei denen geht es nicht um Strümpfe, aber ums Festhalten gegen jede Vernunft. Zum Beispiel wenn um den Erhalt von Traditionen erbittert gekämpft wird, obwohl diese am Leben vorbeigehen, ja, es sogar einengen. Vorschriften, Gepflogenheiten, Lehrmeinungen machen doch nur Sinn, wenn sie zum Leben befreien. In der katholischen Kirche, meiner Kirche, sind solche Prozesse gerade im Gange.

Seit dem 4. Oktober findet in Rom die erste Sitzung der Weltbischofssynode statt. Schon im Vorfeld zeichnete sich ab, wie die verschiedenen Meinungen aufeinanderprallen. Auf der einen Seite die Bewahrer um jede Preis, auf der anderen Seite diejenigen, die offen sind für Veränderungen. Um des Lebens willen. Jesus selbst, der als Jude die jüdischen Traditionen sehr achtete, überschritt ihre Grenzen, wenn es das Leben erforderte. Mehrere Geschichten in der Bibel erzählen davon. Es ist Mut machend und tut gut zu lesen, dass es bei Gott immer zuerst um das Heil des Menschen geht.

Über die Autorin Andrea Wilke

Andrea Wilke wurde 1964 in Potsdam-Babelsberg geboren. 1989 - 1995 studierte sie Katholische Theologie in Erfurt und war danach bis 2002 tätig in der Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte an der Universität Erfurt. Sie ist Onlineredakteurin für die Homepage des Bistums und Rundfunkbeauftragte für den MDR im Bistum Erfurt.

Kontakt: Bischöfliches Ordinariat, Onlineredaktion, Herrmannsplatz 9, 99084 Erfurt

http://www.bistum-erfurt.de; awilke@bistum-erfurt.de