Ich fahre sehr gerne mit der Bahn. Das würde vielleicht nicht jeder sagen, aber ich kann auf der Fahrt entspannt lesen oder arbeiten.
Dennoch ist es manchmal anstrengend. Wenn ich oft umsteigen muss oder ich einen Anschluss verpasse, dann können die Wartezeiten am Bahnsteig lang werden, gerade wenn es kalt und ungemütlich ist. In dieser Zeit kann ich nichts Sinnvolles tun, außer zu warten. Schnell hole ich dann mein Smartphone aus der Jackentasche und schaue nach, was es an Neuigkeiten gibt, und schreibe eine kurze Nachricht.
Ab und zu kann ich diesem Impuls aber auch bewusst widerstehen. Dann stelle ich mich einfach an den Bahnsteig, beobachte die anderen Menschen, die mit mir warten oder zu einem Zug hetzen. Oft gehen mir dann Themen durch den Kopf, die ich noch bearbeiten muss oder ein Treffen, für das mir noch ein passender Impuls fehlt. In dieser fremden Umgebung merke ich dann, dass ich auf ganz andere Ideen komme, als wenn ich in meinem Büro am Schreibtisch säße. Ich sehe irgendetwas, das ich aufgreifen kann. Das sind oft Kleinigkeiten: ein Paar, das sich voneinander verabschiedet, ein Reisender, der den richtigen Bahnsteig sucht oder die Reinigungskraft, die den Bahnhof sauber hält.
In der Theologie spricht man seit einigen Jahren von einem Andersort [1] , also einem Ort jenseits von Kirchengebäuden und Schreibtischen, wo man mit dem wirklichen Leben konfrontiert wird. Er heißt deswegen so, weil er sich von Orten unterscheidet, die man traditionell mit der Kirche verbindet. Umgekehrt kann ich einen mir vertrauten Ort so noch einmal anders entdecken, indem ich von etwas irritiert und damit auch inspiriert werde. Meist sucht man diese Orte zu einem ganz anderen Zweck auf, beispielsweise den Wochenmarkt, das Fitnessstudio – oder eben den Bahnhof. Hier kann ich etwas Neues lernen oder zumindest andere Bilder entdecken, die mir helfen, einen Aspekt neu zu erschließen. Dass beispielsweise ein Bahnhof mich zwar zu einem Ziel bringt, aber nicht selbst schon das Ziel ist, kann ich auf Gottesdienste übertragen, die mich zu Gott führen sollen.
Wenn ich beim nächsten Mal auf einen Zug warten muss, werde ich mich also ganz bewusst umschauen und versuchen, einen neuen Blick auf meine Umgebung zu werfen.
[1] Vgl. Michel Foucault: Des espaces autres, in Ders.: Dits et Écrits II (1976-1988), Paris 2001, 1571-1581 bzw. Ders.: Die Heterotopien. Der utopische Körper: Zwei Radiovorträge, Berlin 2013; übernommen nach Christian Bauer: Theologie am Andersort – ein neuer YouTube-Kanal, https://www.feinschwarz.net/theologie-to-go-ein-neuer-youtube-kanal/#_ftn1 (25. Januar 2025)