Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist, aber in meinem Leben gibt es kaum noch Überraschungsbesuche. Vielleicht liegt es am Alter, dass wir nicht mehr mal eben spontan bei Freunden vorbeischauen, vielleicht sind wir auch alle viel zu beschäftigt oder zu bequem. Eigentlich schade, finde ich, Überraschungsbesuche nämlich haben was. Sie fordern Improvisationstalent und Fantasie heraus, und überhaupt: "Ein Gast kommt nie ungelegen." Das war das Motto meiner sehr gastfreundlichen Eltern und ich bin ihnen bis heute dankbar, dass sie mir das vorgelebt haben.
Als meine Kinder noch zu Hause lebten, habe ich zu den Mahlzeiten fast immer ein zusätzliches Gedeck aufgelegt. Für den Fall, dass jemand zufällig hereinschneit, während wir beim Essen sitzen. "Es könnte nämlich ein Engel sein", hatte ich erklärt.
Sie kennen die Geschichte der Engel vielleicht, sie steht in der Bibel und erzählt davon, wie ein hochbetagtes Paar, Sara und Abraham, überraschend Besuch von drei Fremden bekommt, die gleich noch ein paar Tage bleiben wollen. Damit wäre unsereins dann vermutlich doch ein wenig überfordert, aber Sara und Abraham heißen die Unbekannten willkommen. Sie tischen auf, was Haus und Hof hergeben, man kommt ins Gespräch. Und da nun überbringen die Gäste eine schier unglaubliche Nachricht. Das verdutzte Paar erfährt, es werde binnen eines Jahres den ersehnten Sohn bekommen.
Vielen Dank auch vor solchen Überraschungen, denken Sie jetzt vermutlich. Offen gestanden wäre auch ich nur mäßig begeistert, wenn mir ein Überraschungsgast mitteilen würde, dass ich mit der ganzen Kinderarie demnächst noch mal von vorn anfangen darf. Aber die Geschichte von Sara und Abraham erzählt ja nicht nur von einer bevorstehenden, späten Elternschaft. Im übertragenen Sinn geht es darum, wie bereichernd und beglückend es sein kann, dem Neuen, Unbekannten und Fremden die Tür zu öffnen.
Wer beispielsweise auf Reisen schon mal spontan von Einheimischen eingeladen wurde, der weiß, dass sich einem bei einem gemeinsamen Glas eine ganz neue Welt eröffnen kann. Gastlichkeit ist keine nette Abwechslung, sie beschenkt einen mit tiefen Einblicken in das Leben anderer. Gastfreundschaft stiftet Gemeinschaft über familiäre, freundschaftlich und geographische Grenzen hinweg, und genau deshalb ist sie in allen Kulturen und Religionen fest verankert.
Jemand hat mal gesagt, wenn man stolz auf sein Land sein könne, dann doch wohl auf seine Gastfreundschaft. So sehe ich das auch. Öffnen wir unsere Türen und Herzen, gerade jetzt. Wer weiß, vielleicht ist unter den Gästen ja ein Engel.