Unsere Schulkapelle – ich arbeite als Lehrer in einem kirchlichen Gymnasium – bietet im Moment einen ungewohnten Anblick: Da wo sonst ein farbenfroher Flügelaltar den Besucher freundlich willkommen heißt, ist jetzt nur ein schlichter, mittelgroßer Holz-Kasten mit einem aufgezeichneten Kreuz zu sehen. In der Fastenzeit ist das in manchen Kirchen so: Wenn es einen Flügelaltar gibt, dann werden an ihm die Flügel, die seitlichen Elemente also, am Aschermittwoch zugeklappt. Und sie bleiben dann geschlossen bis Ostern. So ist es auch bei uns.
"Ausgerechnet jetzt, in der Fasten- und Passionszeit! Gerade da könnte man doch unser Altarbild anschauen und meditieren", hat vor einiger Zeit ein Kollege eingewandt. Das zentrale Bild zeigt nämlich eine Kreuzigungsszene. Komisch. Das ganze Jahr über hängen und stehen so viele Dinge selbstverständlich da. Aber wirklich auffallen tut mir etwas immer erst dann, wenn es nicht zu sehen ist. Und dann stelle ich es mir vor: Ich sehe das warme Rot im Hintergrund des Kreuzes, die Farbströme, die von Christus am Kreuz ausgehen, zwei ungewöhnlich auf dem Kopf stehende Engel. Ich sehe mehr als sonst – ohne zu sehen. Das macht mich nachdenklich. Das passiert mir auch sonst: Vieles nehme ich erst dann wahr, wird mir erst dann so richtig bewusst, wenn es fehlt. Das freundliche "Hallo" eines Kollegen am Morgen..., ein selbstverständliches Schwätzchen mit einer Nachbarin auf der Straße... oder an der Kasse beim Einkaufen, dass da überhaupt ein kleiner Supermarkt an meinem Schulweg ist. Und die alltäglichen Begegnungen mit Menschen, die mir lieb sind... Bewusst wird mir das alles erst dann und besonders dann, wenn es mal oder womöglich auf Dauer fehlt.
Mit dem Flügelaltar in der Schulkapelle machen wir das jedes Jahr in der Fastenzeit und im Advent so: Dann sind die Flügel geschlossen. Und immer wieder stößt es mich an. „Fasten der Augen“ könnte man das Verhüllen von Bildern und Kreuzen nennen. "Fasten der Augen"... Fasten, das ist klar: Verzichten auf etwas Alltägliches, Selbstverständliches. Aber nicht weil es schlecht wäre. Oder überflüssig. Nein: um es wahrzunehmen; um zu spüren, wie wertvoll es ist. Verzichten nicht als Leistung. Verzichten, um dankbar zu genießen. Und um bewusster wahrzunehmen. Die Augen schließen, um umso deutlicher sehen zu können. Paradox und doch gelingt das.
Mal sehen, ob ich heute eine Gelegenheit dazu finde: aufmerken – bei irgendeiner Begegnung, bei einem Blick, bei dem Alltäglichen und Selbstverständlichen. Das ist heute meine Chance für eine "Mini-Auszeit" – mitten im Alltag.
Gut, dass unser Hausmeister jedes Jahr die Flügel am Altar zuklappt.