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Wort zum Tage, 26.10.2023

Andrea Wilke, Arnstadt

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Ich weiß nicht, wie oft ich es gehört habe; gefühlt sind es mindestens eine Million Mal, dass mein Sohn folgenden Satz sagt: "Wenn ich ein Mann bin, dann fahre ich ..." – und dann nennt er immer irgendeine Automarke. Welche Automarke es ist, hängt davon ab, welche Person er gerade besonders mag und vor allem welches Auto diese Person fährt.

Manchmal zieht sich bei mir mein Herz zusammen, wenn mein Sohn diesen Satz sagt. Denn er ist ein Kind mit einer geistigen Behinderung, und ich weiß, dass er nie im Leben ein Auto fahren wird. Doch Autos sind wirklich eine große Sache für ihn. Wenn mal jemand anderes ihn betreut, dann wird dieser als erstes genötigt, mit ihm die Autohäuser in der Umgebung aufzusuchen. Zu Weihnachten ein Autoschlüssel ist seit Jahren ein absolutes Muss. Vor einigen Monaten hat er von einem älteren Ehepaar ein großes LKW-Lenkrad geschenkt bekommen. Das muss nun mit, wenn wir irgendwohin mit dem Auto unterwegs sind. Und mein Sohn hat seinen Spaß daran, dieses große Lenkrad auf seinen Knien zu lenken.
Im Sommer dieses Jahres waren wir beide in den Garten dieses Ehepaares eingeladen.

Sie hatten meinem Sohn versprochen, zu grillen. Denn neben Autos liebt er auch Bratwurst. "Kommen Sie etwas eher, mein Mann hat eine Überraschung für den Jungen." Diese Überraschung hatte es in sich. Wir gingen zusammen auf die große Wiese hinter dem Garten. Dort stand ein Traktor. Kein Spielzeug, sondern ein richtiger Traktor. Nicht so riesig wie die, die man manchmal, besonders in Erntezeiten, auf den Landstraßen sieht, aber immerhin. "Setz dich rauf", sagte der Mann zu meinem Sohn. Und dann erklärte er ihm, was er machen muss. Alles schön langsam und immer schön nach vorne gucken! Mein Sohn fuhr los, erst etwas holprig, aber dann immer besser. Der Mann lief mit einigem Abstand nebenher, aber nahe genug, um jederzeit sofort eingreifen zu können. Und ich?

Ich spürte mein Herz, aber dieses Mal vor Freude. Ich konnte nicht anders als mein Handy zu zücken und zu filmen, wie mein Sohn Traktor fährt. Linksrum, rechtsrum, geradeaus. Alle Freunde und Bekannten sollten es wissen. Was ich niemals für möglich gehalten hätte, spielte sich gerade vor meinen Augen ab. Und das konnte nur deshalb passieren, weil dieser 74jährige Mann mehr gesehen hat als ich. Ich hatte immer gesehen, was mein Sohn alles nicht würde tun können. Er dagegen sah, was möglich sein könnte. Er hat an meinen Sohn geglaubt. Und entsprechend gehandelt.

Dieses Erlebnis war für mich eine Lektion, für die ich sehr dankbar bin. Denn es gibt im Leben so viele Situationen, in denen es dringend notwendig ist, mehr zu sehen als nur das, was einem sichtbar vor Augen liegt.

Über die Autorin Andrea Wilke

Andrea Wilke wurde 1964 in Potsdam-Babelsberg geboren. 1989 - 1995 studierte sie Katholische Theologie in Erfurt und war danach bis 2002 tätig in der Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte an der Universität Erfurt. Sie ist Onlineredakteurin für die Homepage des Bistums und Rundfunkbeauftragte für den MDR im Bistum Erfurt.

Kontakt: Bischöfliches Ordinariat, Onlineredaktion, Herrmannsplatz 9, 99084 Erfurt

http://www.bistum-erfurt.de; awilke@bistum-erfurt.de