Der Sommer ist längst verklungen, aber ein Bild meines Sommers geht mir noch sehr nach. Ich bin auf einer Insel in der Nordsee und mein Blick von der Ferienwohnung aus fällt auf das vor mir liegende Watt.
Weit geht hier der Blick, vor allem aber, es ist ruhig. Der Wind vom offenen Meer an der anderen Inselseite kommt gar nicht bis hierher. Und eigentlich passiert auch nichts. Und doch, ganz allmählich kommt nach der Ebbe das Wasser zurück. Ich weiß das mehr, als dass ich es sehe. Das Wasser steigt, aber ganz unmerklich. Ich muss schon genau schauen, oder besser ich muss eine Weile auch mal wegschauen, um überhaupt den Anstieg des Wassers zu bemerken. Und doch, es passiert, immer ausgreifender überzieht und bedeckt das Wasser die Wattfläche, glitzernd in der Abendsonne. Es ist wie ein endlos langes Einatmen. Und Stunden später dann, das Ausatmen, wenn nach der Flut die Ebbe wieder einsetzt und das Wasser ganz langsam wieder weicht.
Beim Blick auf dieses Naturschauspiel schweife ich in Gedanken ganz weit zurück in meine Studentenzeit, in ein Proseminar an der Uni. Goethes Ausführungen über Systole und Diastole waren das Thema, die Begriffe, mit denen er die gegensätzlichen Bewegungen, die Pole beschreibt, die unser Leben ausmachen.
Wir kennen die Begriffe vom Hausarzt, wenn er uns den Blutdruck erklärt, den oberen systolischen Wert, wenn sich das Herz zusammenzieht und Blut in den Kreislauf pumpt, und den unteren, den diastolischen Wert, wenn sich das Herz ausdehnt und sich wieder mit Blut füllt. Dieser Herzrhythmus ist es, der uns schlichtweg am Leben hält.
Der Rhythmus von Ebbe und Flut macht das so einzigartige Leben im Watt aus. Natürlich gehören dazu die kräftigen Strömungen zwischen den Inseln, die Priele, auch die Stürme und Überflutungen. Und vor allem gehört dazu all das so einzigartige Leben im Watt. Aber in diesem Moment, in dem ich am Rande des Watts stehe, mit dieser Distanz, sehe ich nur das so langsame Ein- und Ausatmen.
Und ich spüre: Genau das ist so wichtig, die Distanz zu all den Untiefen und Strömungen, denen wir uns täglich stellen müssen. "Ich brauche einfach mal ein bisschen Abstand", diesen Satz höre ich öfters von Bekannten – und auch von mir selbst. Erschöpft vom Alltagsstress hilft es mir tatsächlich, Sorgen und Nöte von außen zu betrachten. Um dann den tiefen Rhythmen, die mein eigenes Leben ausmachen, näher zu kommen. Das Wattenmeer unterstützt mich dabei mit seinem ewigen Ein- und Ausatmen. Oder wie Goethe schreibt: "(…) das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind."
Zitat aus: J.W.Goethe. Zur Farbenlehre, didaktischer Teil, Verhältnis zur allgemeinen Physik, Abschnitt 739. Zitiert nach: http://www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfgang/Naturwissenschaftliche+Schriften/Zur+Farbenlehre/Zur+Farbenlehre.+Didaktischer+Teil/5.+Abteilung.+Nachbarliche+Verhältnisse/Verhältnis+zur+allgemeinen+Physik (Zugriffsdatum 04.09.2024).