Weil ich mich erinnern möchte, stelle ich Bilder von Menschen auf, die mir lieb sind. Ich bringe mir Souvenirs von Orten mit, an denen ich gerne meine Ferien verbringe. Ich trage Ereignisse in den Kalender ein, die ich jedes Jahr auf Neue bedenken oder feiern will. Aber manche Erinnerungen werde ich leider nicht los. Und einige Sachen fallen mir nicht mehr ein. Oft ohne dass mir das bewusst ist, bestimmen Erinnerungen meinen Alltag. Sie helfen mir, mich zurecht zu finden. Im Supermarkt weiß ich, wo ich die Milch finde. Wege durch die Stadt kenne ich genau. Ich weiß um Empfindlichkeiten von Leuten, mit denen ich zu tun habe.
Um ein Zurechtfinden geht es jedes Jahr am 27. Januar. Er ist der "Holocaust-Gedenktag" – Erinnerung an die Befreiung der Konzentrationslager in Auschwitz im Jahr 1945. Also heute vor 80 Jahren. Das "KZ Auschwitz" steht für die Verbrechen, die die deutschen Nationalsozialisten dem Jüdischen Volk, ja der ganzen Menschheit angetan haben. Deswegen ist er in Deutschland "der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus".
Manchen Leuten gefällt das nicht, dieses fortwährende Erinnern an die Vergangenheit. Sie möchten das abschaffen. Das finde ich töricht. Denn gerade die Erfahrungen des abgrundtief Bösen in der Menschheitsgeschichte geben mir einen Maßstab der Einordnung gegenwärtiger Denkmuster und Parolen: Remigration, "Deutschland den Deutschen", Antisemitismus und Hass auf alles Fremde. Solche Wege führen nicht nur in die Irre, sie führen in den Abgrund. Ein Zurechtfinden in dem Meinungsgemisch dieser Zeit leistet die Erinnerung des heutigen Tages.
Ein Text im Neuen Testament der Bibel gibt mir einen persönlichen Zugang zu dem heutigen Tag: Die Solidarität mit denen, die gelitten haben und heute immer noch leiden, die "durch Beschimpfungen und Bedrängnisse öffentlich zur Schau gestellt" werden. Auch wenn ich das selbst nicht aushalten muss, bin ich "mitbetroffen vom Geschick derer, denen es so erging und ergeht", lese ich im Hebräerbrief (10, 32 ff). Als Mensch und auch als Christ ist ein "mir-doch-egal" vollkommen unangemessen.
Auch wenn meine Möglichkeiten, etwas zu tun, sehr gering sind, ich habe eine Stimme. Ich kann wiedersprechen. Ich kann klarstellen. Ich kann ermutigen. Ich habe eine Stimme und kann zur Wahl gehen. Ich kann in meiner überschaubaren Lebenswelt Erinnerungen wach halten. Auch an die, die sich zu allen Zeiten mutig für die Würde der Menschen eingesetzt haben. Sich an sie zu erinnern, ist der heutige Tag eine gute Gelegenheit.