In die Steinzeit, das Neolithikum, entführt der Roman "Morgen der Welt". Noam heißt der Held der Geschichte, die Eric-Emmanuel Schmitt erzählt. Noam lebt fest eingebunden in die Abläufe der Familien, die vor rund 8000 Jahren zu seinem Dorf gehören. Als es zum Konflikt mit seinem Vater und dadurch zum Bruch mit der Dorfgemeinschaft kommt, gerät seine Welt aus den Fugen. Er verlässt die gewohnte Umgebung. Zum ersten Mal ist er ganz auf sich alleine gestellt. Während alles im Wanken scheint, kommt Noam eine das Leben inspirierende Erkenntnis: "Ich besaß eine gewisse Macht", stellt er fest. "Ja, ich besaß die Macht, mein Leben zu beeinflussen, anstatt es zu ertragen." Mit der Allwissenheit des Erzählers erläutert Eric-Emmanuel Schmitt das: "Jahrtausende später werden die Philosophen diesen Spalt, der sich da Noams Bewusstsein auftut 'Freiheit' nennen…".
Freiheit! Was eine großartige Sache! Neben der Gleichheit und Brüderlichkeit steht sie als Grundprinzip über der französischen Revolution. Sie beherrscht die Epoche der Aufklärung. Keiner der großen Philosophen seit der Antike hat Freiheit als Thema ausgelassen.
Freiheit: Tun und lassen können, was ich will – nicht gezwungen sein, selbst bestimmen, nachdenken und entscheiden. Bei einer Urlaubsreise vor ein paar Monaten, nehme ich eher beiläufig im Tal der Rhone die faszinierende Silhouette eines romanischen Klosterturmes wahr. Ich unterbreche die Fahrt spontan: Begeistert erkunde ich zwei Stunden lang die Ruinen und die heutige Anlage der Abtei von Saint Maurice. Einem Freund schicke ich über das Handy ein paar Aufnahmen und meine Kommentare. Abends schreibt er zurück: "Da waren wir zusammen auf einer Radtour vor fast 30 Jahren schon einmal. Damals warst Du übrigens ganz ähnlich begeistert."
Ich hatte es vergessen. Seltsam. Wie frei war, bin ich in meinen Entscheidungen eigentlich? Ist alles vorher bestimmt - durch Gene, Gewohnheiten, Interessen? Unbewusste Mechanismen, Sehnsüchte, Anlagen: Sind sie es, die letztlich für meine Entscheidungen verantwortlich sind?
Der Noam der Steinzeit lernt: Freiheit ist zwischenmenschlich. Es gibt sie aber auch in den Strukturen meiner selbst. Da sind bei vielen Leuten, die ich kenne, die Vorsätze vom Jahresanfang; vielleicht mehr Sport zu treiben, auf gesündere Ernährung zu achten, mehr zu schlafen oder freundlicher mit anderen umzugehen. Ich bin Gewohnheiten und Bräuchen nicht hilflos ausgeliefert. Menschen können sich ändern: Die Entscheidung dazu muss ich allerdings täglich neu treffen. Beharrlichkeit und Willensstärke sind wichtig. Und, wer weiß, vielleicht auch etwas Hilfe von oben …