Es ist schon etwas länger her, da habe ich in einer großen Schweizer Tageszeitung einen Artikel gelesen, in dem ein Basler Wirtschaftswissenschaftler dafür plädierte, das gefühlte Alter – ebenso wie das gefühlte Geschlecht – frei wählen und eintragen zu lassen. Ganz im Sinn von, man ist so alt, wie man sich fühlt. Dieser Gedanke wurde nun im Kommentarbereich vergnüglich weitergesponnen. Ein Leser träumte davon, sein Gehalt nach seinem Gefühl zu wählen, ein anderer stellte erfreut fest, wenn man sich als Hauskatze fühle, könne man sich ja von der Steuer befreien lassen. Die Diskussion war natürlich nicht ganz ernst gemeint, machte allerdings auf ein Phänomen aufmerksam, das auch mich beschäftigt. Nämlich das Gefühl, dass subjektive Meinungen im gesellschaftlichen Diskurs, wie es so schön heißt, immer mehr Raum einnehmen. Nicht allein, dass es beinah ein ungeschriebenes Gesetz zu sein scheint, seine Gefühle stets und überall kundzutun. Mit Gefühlen lässt sich auch so ziemlich alles erklären, rechtfertigen und entschuldigen.
Wer "besorgt" oder "betroffen" ist, muss sich nicht für mehr für Beleidigungen und Wutausbrüche schämen. Wer "irgendwie ein ungutes Gefühl" hat, darf Versammlungen sprengen und Beziehungen aufkündigen. Gefühle sind zum Richter moralischer, ästhetischer und politischer Urteile avanciert: Wer fühlt, ist im Recht. Und so wird jede kleinste Störung der eigenen Befindlichkeit zur Beleidigung aufgeblasen.
Natürlich kann und will ich niemandem seine Empfindungen absprechen. Es spricht in meinen Augen allerdings auch nichts dagegen, Gefühle erst einmal zu überdenken, bevor man sie äußert. Insbesondere die heftigen. Meinungsverschiedenheiten, bei denen Emotionen die Oberhand gewinnen, führen nämlich unweigerlich in eine Sackgasse. Gefühle lassen sich ja nicht überprüfen. Sie sind rein subjektiv und entziehen sich jeder Logik und Nachweisbarkeit. Man kann nichts dagegen vorbringen, und falls man es trotzdem wagt, landet man schnell auf einer persönlichen Ebene. Und da wird es nun erfahrungsgemäß sehr schnell sehr unangenehm.
Gefühle sind wichtig und wertvoll. Sie machen das Leben bunt und reicher, aber sie sind nicht das Maß aller Dinge. Mitunter sind sie sogar fehl am Platz. Früher wurde man dazu angehalten, ihnen bitte nicht bei jeder Gelegenheit freien Lauf zu lassen. Ich finde, ganz falsch ist das nicht. Bei all dem ist es absolut zu begrüßen, dass wir heute offener über Gefühle sprechen und Emotionen bewusster und sensibler wahrnehmen als früher. Aber hoffentlich nicht nur die eigenen.