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Voreilige Schlüsse

Wort zum Tage, 28.02.2023

Peter Kloss-Nelson, Berlin

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"Jule, ich will." So stand es in großen Buchstaben weithin sichtbar auf einer Autobahnbrücke. Alle Vorbeifahrenden konnten es lesen. Diese Nachricht war offenbar nicht nur für Jule bestimmt, sie brauchte Öffentlichkeit. Da hatte sich jemand entschieden und wollte, dass auch die mobile Masse es erfährt. "Jule, ich will." – "Dich nicht", lautete dann aber die Botschaft an der nächsten Brücke. Eine kalte Dusche!

Auf den zweiten Blick sah die Sache wohl doch anders aus. Konnte der Schreiber das nicht etwas diskreter mitteilen? – arme Jule, dachte ich! Dann die nächste Brücke und die Aufschrift: "verlieren! Dein Linus."

Eine dreiteilige Brückenbotschaft mit Happyend. "Jule, ich will Dich nicht verlieren! Dein Linus." Gott sei Dank, am Ende noch mal gut gegangen. Als moderner, an Gigahertz-Geschwindigkeit gewöhnter Mensch der Informationsgesellschaft, irritiert mich eine Botschaft, die mir in langsamen Häppchen verabreicht wird. Umso schlimmer, wenn diese Häppchen auch noch widersprüchlich daherkommen.

Das Problem liegt dabei wohl darin, dass ich dazu neige, mir Inhalte nach den vorliegenden, vielleicht unvollständigen Informationen sehr schnell zusammen zu reimen. Besonders bedeutungsvoll scheint mir diese Erkenntnis beim Beurteilen von Menschen und ihren Handlungen zu sein.

Was habe ich selbst wahrgenommen, was habe ich von wem gehört oder gelesen und reichen diese Quellen wirklich aus, um mir ein ausgewogenes Urteil über jemanden zu erlauben? Die Brückenbotschaft im Minutentakt rät mir, langsam und geduldig zu sein, um möglichst die ganze Wahrheit zu erfassen und nicht Opfer meiner voreiligen Schlüsse zu werden.
Im Altgriechischen wird das Wort Geduld sehr bildhaft mit makrothymia übersetzt – Herzensweite. Bislang habe ich mit dem Begriff Geduld immer viel zu langsam vergehende Zeit und quälendes Warten assoziiert.

Herzensweite kann dagegen bedeuten, ausreichend Raum und Zeit zu haben für das Sammeln von unterschiedlichen Informationen, die am Ende zu einem reiferen Urteil über jemanden führen können als der Schnellschuss. Das weite Herz als Bild dafür, dass abgewogen werden kann, gegenübergestellt, verworfen und schließlich bestätigt. Manchmal kann ich geduldig erleben, wie die Wirklichkeit sich doch anders darstellt oder zum Besseren wendet als ich es auf den ersten Blick gedacht habe.

Entscheide ich mich für die Herzensweite, werde ich wohl so manchen Erkenntnisprozess oder eine drängende Entscheidungsfindung verlangsamen. Ich erhalte mir aber die Hoffnung auf die guten Botschaften, von denen ich auf den ersten Blick noch nichts weiß.

Über den Autor Peter Kloss-Nelson

Peter Kloss wurde 1961 in Berlin geboren und begann 1990 seine Tätigkeit als Pastoralreferent zunächst im Bezirk Wedding. Spätere Einsätze folgten in Reinickendorf, in der Geschäftsstelle des ersten ökumenischen Kirchentags 2003, in der Begleitung von Veränderungsprozessen als Gemeindeberater und als Referent für Pastoral- und Gemeindeentwicklung im Dezernat Seelsorge des Erzbischöflichen Ordinariats Berlin. Heute ist er im Personaldezernat Referent für Einsatzplanung und -begleitung von pastoralem Personal.

Kontakt: peter.kloss@erzbistumberlin.de