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Naiv

Wort zum Tage, 30.08.2024

Martin Wolf, Mainz

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Es gibt ein Spiel, das ich als Kind nie gern gespielt habe. Es geht so: Da steht jemand in der Mitte eines Kreises von Mitspielerinnen und -spielern und lässt sich einfach nach hinten fallen. Wer immer also in der Kreismitte steht, vertraut darauf, dass die anderen ringsum sie oder ihn schon auffangen und festhalten werden. Ich hab mich da nie reingestellt. Nicht, dass ich den Anderen üble Absichten unterstellt hätte. Aber ich mag das einfach nicht. Ich bin jemand, der im Leben immer gern die Kontrolle behält. Der es hasst, orientierungslos zu sein. Deshalb fällt es mir auch schwer, mich "einfach mal gehen zu lassen", wie man sagt. Zu viel trinken etwa und danach dummes Zeug reden, für das ich mich schämen könnte. Schwer vorstellbar. Ich will keinen Kontrollverlust.

Auf der anderen Seite bin ich ein gläubiger Mensch. Ich glaube an einen Gott, den ich weder sehen noch beeinflussen kann, was dann schon wieder geradezu naiv erscheint. Und für naiv halte ich mich natürlich nicht. Denn naiv wäre einer, der eher schlicht und treuherzig ist und in den Tag hineinlebt. Einer, für den Fakten nicht so wichtig sind und der mit wichtigen Entscheidungen oft unüberlegt und unkritisch umgeht. Nun sprechen die Fakten tatsächlich nicht unbedingt dafür, an so einen Gott zu glauben. Warum also tue ich es trotzdem? Und warum so viele andere, die sicher auch nicht naiv sind?

Vielleicht ist mein Wunsch, die Dinge im Griff zu haben, ja in großen Teilen eine Illusion. Eine gefühlte Sicherheit, die mein Selbstvertrauen stärkt. Die mich schützt vor dem Gefühl, bei so Vielem ohnmächtig zu sein. Denn wenn ich ehrlich mit mir selbst bin, dann bleibt da in Wahrheit gar nicht so viel, dass ich wirklich kontrollieren kann. So kann ich mich etwa für einen umsichtigen, konzentrierten Autofahrer halten. Eine Garantie, dass ich immer unfallfrei ans Ziel komme, habe ich nie. Ich kann täglich alles daransetzen, um gesund und fit zu bleiben. Die Gewissheit, dass ich damit von schlimmen Krankheiten verschont bleibe, habe ich dennoch nicht. Viel zu Vieles habe ich einfach nicht in der Hand. Mir bleibt also gar nichts anderes übrig, als zu vertrauen und auf das Gute zu hoffen.

Und so ist das auch mit meinem Glauben. Ich werde in diesem Leben keinen unwiderlegbaren Beweis bekommen, dass es diesen Gott gibt, an den ich glaube. Ich kann nur darauf vertrauen. Hoffen, dass mein Gebet kein Selbstgespräch bleibt. Dass da irgendwo ein Gegenüber ist, das mir zuhört, mich sieht und mich will. Glauben ist der ultimative Kontrollverlust – und zugleich der Ernstfall fürs Vertrauen.

Über den Autor Martin Wolf

Martin Wolf wurde 1962 in Schwerte geboren. Er studierte Katholische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Seit 1990 ist er beim Bistum Speyer beschäftigt. Von 1993 bis 2004 war er als Pastoralreferent in verschiedenen Pfarreien des Bistums Speyer tätig. 2004 wurde er Leiter der Katholischen Hochschulgemeinde in Kaiserslautern. Als Autor ist er in der Katholischen Rundfunkarbeit bereits seit 2002 engagiert. Von 2010 bis 2017 war er auch Beauftragter des Bistums Speyer beim Südwestrundfunk (SWR) und Saarländischen Rundfunk (SR). Seit Juni 2017 ist Martin Wolf Landessenderbeauftragter der Katholischen Kirche beim SWR in Mainz. Wolf ist verheiratet und hat gemeinsam mit seiner Frau zwei Töchter.