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Zwischen den Jahren

Wort zum Tage, 30.12.2024

Pfarrer Detlef Ziegler, Münster

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Irgendwie sind die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr anders als der Rest des Jahres. Es ist die Zeit "zwischen den Jahren". Mich selbst machen diese Tage nachdenklich, auch ein wenig melancholisch. Schon wieder ist ein Jahr vorbei. Als ich jung war, konnte ich vieles kaum abwarten, die Zeit schien manchmal quälend langsam zu vergehen, im Warten auf das, was man sich so sehnlichst wünschte: endlich den Führerschein, das Abitur, das nächste Examen… Jetzt, wo ich älter werde, scheint die Zeit zu fliegen. Und in Tagen wie diesen springt mich auch manchmal der Gedanke an: Wie viel Zeit bleibt mir denn noch? Die Restlaufzeit des Lebens wird immer überschaubarer. Mit sechzehn oder zwanzig war das ganz anders…

Eines meiner Lieblingsgedichte Rilkes bringt die Flüchtigkeit der Zeit gleich in den ersten Versen auf den Punkt, er schreibt: "Wunderliches Wort; die Zeit vertreiben! Sie zu halten, wäre das Problem." Und es folgt die bange Frage: "Denn, wen ängstigt es nicht: wo ist ein Bleiben, wo ein endlich Sein in alledem?"

Die Zeit, sie ist eben nicht zu halten, die Uhr tickt und läuft ab. Und wenn man diesen Gedanken wirklich an sich heranlässt, kann das auch Angst machen. Keine Frage: Ich genieße es bisweilen, mir die Zeit zu vertreiben, also ohne Druck und Verpflichtung mich einfach mal gehen zu lassen. Und zugleich weiß ich auch: Wie viel Zeit habe ich in den letzten zwölf Monaten auch sinnlos vertrieben, mich hängen und treiben lassen? Was habe ich dadurch auch verpasst? Ja, die Zeit ist kostbar, zumal die Lebenszeit. Sie ist nicht zu halten, und gerade das macht jeden Tag so besonders.

Der römische Dichter Horaz dichtete der Zeit geradezu etwas Feindliches an, wenn er sagt: "Voller Missgunst flieht die Zeit!" Und sein daraus folgender Ratschlag ist bis heute ein geflügeltes Wort geblieben: "Carpe diem!" Nutze den Tag! Noch besser übersetzt: "Pflücke den Tag!" Also wie eine reife Frucht, die es nicht verdient, wie Fallobst zu verrotten. Jeder Tag hat die Chance, auf seine Art fruchtbar zu sein, im Tun, aber auch im zwecklosen Da-sein, damit ich mich in meinen Umtrieben nicht verliere.

Rilke schließt sein Gedicht mit den Worten: "In meinem wilden Herzen nächtigt obdachlos die Unvergänglichkeit." Die Unvergänglichkeit meines Lebens habe ich nicht selbst in der Hand. Sie ist, da widerspreche ich Rilke, nicht obdachlos. Ich gehe in das neue Jahr auch mit der Hoffnung: Meine Zeit, die flüchtige und haltlose, ist in Seiner, in Gottes Hand, was auch immer da kommen mag.

Über den Autor Pfarrer Detlef Ziegler

Pfarrer Dr. Detlef Ziegler, geboren und aufgewachsen im Ruhgebiet, studierte Theologie, Philosophie, klassische Philologie und Pädagogik in Münster und München. 1985 wurde er in Münster zum Priester geweiht. Von 1990 bis 2001 war er Studienrat am Gymnasium Paulinum in Münster und danach in der Aus- und Fortbildung im Bistum Münster tätig. Zudem hatte er Lehraufträge für philosophische und theologische Anthropologie, Neues Testament und Homiletik in Münster und Paderborn.

Kontakt: ziegler@bistum-muenster.de