Beten kann man auf ganz verschiedene Weise. So wurde der frühere Generalobere des Jesuitenordens, Peter-Hans Kolvenbach, in einem Interview einmal gefragt: "Pater, wie beten Sie?" Kolvenbachs Antwort: "Ich nehme ein Christusbild und schaue es mir an."
Kunst und Glaube gehen zusammen. Nirgendwo im Christentum spürt man das so sehr wie in den orthodoxen Kirchen, die in Griechenland und Osteuropa ihre Wurzeln haben. Die Verehrung der Bilder ist für die Gläubigen dort von zentraler Bedeutung. In den Ikonen begegnen sie Christus, der Gottesmutter oder einem Heiligen. Das Schauen wird so zu einem Gebet.
Das erlebe ich auch immer wieder. Dabei habe ich über die Jahre festgestellt, dass mich besonders die Kreuzesdarstellungen aus der Romanik berühren. Dort sind es vor allem die lebensgroßen Kruzifixe, die mich ansprechen und still werden lassen. Anders als in der Epoche der Gotik zeigen die romanischen Kreuze nicht den furchtbar leidenden Jesus, der in gekrümmter Haltung unter qualvollen Schmerzen stirbt.
Der Gekreuzigte in der Romanik steht aufrecht, wie auf einem Podest. Meist sind beide Füße einzeln ans Holz genagelt. Seine Arme hat er weit und gerade ausgestreckt. Sein Gesicht ist nicht schmerzverzerrt. Christus hat die Augen weit geöffnet und zeigt keine Spuren des Leids. Hier hängt kein grausam gefolterter Mensch mehr, sondern der Gottessohn, der am Kreuz den Tod schon überwunden hat. Um die Würde und Majestät zu unterstreichen, trägt die romanische Christusfigur oft statt einer Dornenkrone die Krone oder den Goldreif eines Königs. Dieser Jesus lebt und herrscht schon am Kreuz über die ganze Welt!
Von diesen romanischen Kreuzen geht eine ungeheure Faszination aus. Ich spüre, dass die Künstler mit ihrem Werk auch ein Bekenntnis ablegen wollten. Im Kreuz kommen die zentralen Botschaften des christlichen Glaubens zusammen: Tod und Auferstehung. Es ist der gekreuzigte und auferstandene Jesus Christus, der als Messias und Gottessohn die Macht des Bösen gebrochen hat. Er ist der Erlöser. Auch für mich.
Wenn ich dieses Kruzifix betrachte, werde ich unweigerlich hineingenommen in die Ruhe und Souveränität, die der Gekreuzigte ausstrahlt. So wird tatsächlich das Schauen zum Gebet. Und ich verstehe, was Jesus im Johannesevangelium mit Blick auf seine Kreuzigung sagt: "Wenn ich über die Erde erhöht bin, werde ich alle zu mir ziehen." (Joh 12,32)
Wir haben in Deutschland eine Reihe dieser tief berührenden Großkreuze aus der Zeit des frühen und hohen Mittelalters. In dem kleinen Dorf Enghausen im Landkreis Freising hängt in der Pfarrkirche sogar das älteste noch erhaltene Monumentalkreuz überhaupt. Entstanden um das Jahr 890. Auch hier begegnet man einem lebendigen Christus mit weit geöffneten Augen.
Weitere beeindruckende Kunstwerke sind das Udenheimer Kreuz im Mainzer Dom, das Kruzifix in der Domkrypta von Naumburg oder das einzigartige Imervardkreuz in Braunschweig. Und schließlich, der sogenannte "Große Gott" von Altenstadt in Oberbayern. Über drei Meter hoch ist dieser triumphierende Christus. Auch er verkörpert mit seiner majestätischen Gestalt schon am Kreuz den Sieg des Lebens über den Tod.
Was für eine großartige Botschaft!